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Deutschland.
haßten Engländerin wie verzaubert, stand starr mit vorwärts- strebenden Angen da, wurde ein wenig blässer und sagte plötzlich: „Heinrich, ich möchte die rote Blume dort drüben haben!"
„Was für eine Blume denn, Kind?"
„Die dnnkelrote dort drüben! an der Mauer! Siehst Tn sie nicht?"
O ja, ich sah sie jetzt. Gerade gegenüber ans einem Mauerspalt wuchs ans langem, mit schmalen Blättern spiralförmig umwundenen Stengel eine zierliche Traube von dunkel- roten Glockenblumen, die sich dekorativ an dem Wettergranen Gemäuer sehr hübsch machten, zu Seraphinens Toilette aber mir nicht sonderlich zu stimmen schienen. Ein Irrtum, daß sie eine andere Blume meinte, war ausgeschlossen; denn ein langer, fußbreiter, am oberen Ende glattgehobelter Balken lief von nnscrm Standpunkt in einer geraden Linie zu der Stelle an der Wand, da dies elende Gewächs im Winde sanft seine Glöcklein schaukelte, und der Geliebten Blicke liefen diesen schmalen Balken entlang.
„Die Rosen sind nirgends zu finden!" Mit diesem Ausruf kam Miß Parker zu uns zurück, znm Ausbruch drängend auch ohne Roser.
In derselben Sekunde rannte mir Seraphine gebieterisch die Worte zu: „Wenn Tn mich lieb hast, holst Du mir die Blume, Heinz, und holst sie ans dem kürzesten Wege."
„Auf dem kürzesten Wege?" fragt' ich, ohne meine Überraschung mühsam zu verbergen, denn der kürzeste Weg war der fußbreite Balken über dem zwei Stockwerke tiefen Abgrund. Ein Fehltritt, und kein Gott machte mir den gebrochenen Hals wieder ganz.
Sie aber sagte, ohne mit der Stimme zu zittern, obschon sie leichenblaß geworden war: „Ja, Heinz, ans dem nächsten Wege; aber versteht sich, nur wenn Du mich lieb hast!"
„Wie Du befiehlst!" sagt' ich, machte kehrt und betrat den Balken, vorsichtig, wie in der Turnschule, einen Fuß Vörden andern setzend.
Der nächste Weg war jedenfalls nicht der rascheste. Das war so ungefähr mein Gedanke, als ich das Wagestück begann. Ein answallender Zorn über solch unerhörte Forderung half mir dabei. Ähnlich wie das Kind sagte, es geschieht meinem Vater schon recht, wenn ich mir die Hände erfriere, warum kauft er mir keine Pelzhandschnhe, so dacht' ich: wenn ich bei dieser Probe, wie höchst wahrscheinlich, das Genick breche, dann wird sie ihr Lebtag keinen so verliebten Narren finden, wie ich einer war. Im nächsten Augenblick aber dacht' ich schon wieder: jetzt steht sie hinter mir mit fieberhaft klopfendem Herzen, und jeder Pulsschlag ist Angst um mein Leben und lodernde Liebe zu mir.
Gleich darauf dacht' ich nichts mehr.
Das kam überraschenderweise so. Der biedere Arbeiter, dem ich meiiMPferd anvertrant, war eben, als die Gesellschaft uns znm Ausbruch eingeladen hatte, zu mir getreten, in der Absicht, mir zu sagen, wo er den Fuchs eingestellt habe, und zu fragen, was weiter geschehen solle. Er hatte Seraphinens Wunsch vernommen, und ohne in seiner schlichten Einfalt ans die Vermutung zu geraten, daß in diesem Wunsch nicht so sehr das Bedürfnis nach einer recht überflüssigen Blume, sondern das Verlangen nach einer noch weit überflüssigeren Liebes- probe enthalten sei, war der flinke Zimmermann um die drei Seiten der Galerie herumgerannt, hatte die Blume gebrochen
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und kam mir nun dreiviertel der Balkenlänge, den schmalen Steg mit katzenartiger Sicherheit entlang laufend, in der weit ausgestreckteu Hand die Blume, lächelnd entgegen.
Sein gutes Herz und mein gutes Trinkgeld hatten zusammengewirkt, ihn diesen Entschluß rasch fassen und rasch aus- sühren zu lassen. Sein Beruf hatte ihn schwindelfrei gemacht, er bewegte sich in der schauerlichen Höhe ans dein gefährlichen Holzblock so sicher wie ans ebenem Wiesenpfad. Er riskierte wenig oder nichts, wo ich, hundert zu eins gelegt, ein verlorenes Opfer war.
Ich leide zwar auch nicht am Schwindel und hätte vielleicht den Tenfelswcg auch mit heiler Haut zurückgelegt . . . aber ich gestehe, es war mir nicht unangenehm, daß der menschenfreundliche Zimmergeselle mir diese, nicht eben rühmliche Gefahr abturzte und meinem Vorhaben, die Bahn zu vollenden, ein entschiedenes Nein entgegensetzte.
Er reichte mir die Hand, eine Hand wie von Erz, von der gehalten ich die Wendung meiner Füße sicherer vollziehen konnte, und ließ mich nicht los, bis ich wieder auf den Steinsliesen der Galerie festen, breiten, sicheren Grund unter mir
„Aber, Herr Lieutenant, das ist kein Weg für einen Kavalleristen!" sagte der gutmütige Kerl und lehnte sich beiseite ans Geländer. Er ließ mich mit aller Hochachtung nicht aus den Augen und hielt mich ohne Zweifel in diesem Augenblick für- verrückt.
Sernphine war hinter mir in die Kniee gesunken und saß auf ihren Fersen, als wäre sie kein Glied zu bewegen mächtig. Ich warf ihr die roten Blumen in den Schoß und bemühte mich, sie aufznrichtcn. Reden könnt' ich in diesem Augenblick nicht.
Sie klammerte sich mit allen zehn Fingern an mich und sah mich mit großen Augen an. Auch ihr schien es schwer zu werden, die Zähne auseinanderzuthnn.
Ich setzte sie auf die Bank und lehnte ihr Köpfchen an die Wand. Dann brach sie in Thrünen ans. Und das war gut. Nun konnte sie auch wieder reden.
„Wenn Du gestürzt wärest, Heinrich," sagte sie leise, „ich wäre Dir nachgesprungen in die Tiefe. Ich hätte Deinen Tod nicht überlebt."
„Das glaub' ich," sagte ich; „aber warum denn sterben?"
„Du hast recht, Heinz, das Leben ist so schön, wenn man sich so geliebt weiß, wie ich und Du."
„Da nimm Deine Blumen," sagte ich nicht ganz ohne Lächeln.
Sie nahm sie, drückte jedes Glöckchen in ihren Fingern, hielt dann die ganze Traube mit halb erhobener Hand am Stengel vor ihr betrachtendes Gesicht und sagte nach einer Weile, als die Hand mit der Pflanze in den Schoß zurückfiel: „Das Diug ist in der Nähe eigentlich gar nicht so hübsch, wie's aus der Ferue schien. Ich kann es gar nicht gebrauchen!"
Sie sagte das in so kläglichem Ton, als ob ihr das Weinen wieder ankäme, und doch so, daß ich über dies seltsame Bedauern auflachen mußte.
Da lachte sie mit und noch lauter als ich, und danach sagte sie: „Weißt Du, Heiuz, das Wagestückcheu, darum ich Dich gebeten, ist auch gar nicht so gefährlich, wie ich mir vorgestellt hatte! Der ganz gewöhnliche Kerl, der Maurer, oder was er ist, der lief ja nur so den Balken entlang, ohne ans