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Deutschland.
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Während der ganzen Zeit verließ der Mann seinen Posten nicht. Ich begreife jetzt schwer, wie er, der doch auch einmal, wie der „Adler," dessen Kajüte sein Wohn-, Speise- und Schlafzimmer war, in die Ferne gestrebt haben mochte, so, abgeschieden von jedem Verkehr mit gebildeten Menschen, die schauerliche Einförmigkeit seines Berufes durch viele Jahre ertragen hat, ohne darüber wahnsinnig zu werden; damals erschien er mir als der beneidenswerteste aller Sterblichen. Er, der beständig den Himmel über sich, die Wellen unter sich hatte und des Abends in der traulichen Kajüte beim dampfenden Grog so prächtige Geschichten zu erzählen wußte: von dem Sturm im vergangenen Herbst, der, wenn er noch eine halbe Stunde länger gewährt, die ganze Flottille vernichtet Hütte; von dem englischen Schoner, der in diesem Frühjahr bei Mönchgut strandete, und dessen Besatzung, als die Lotsen endlich herankommen konnten, nur noch in einem großen, heulenden, schwarzen Neufundländer bestand — demselben, der jetzt zu den Füßen des Erzählers so behaglich schnarchte. Und weiter: dem Fischadler, der gestern auf einen Riesenlachs gestoßen hatte, das Ungetüm nicht aus dem Wasser heben, aber auch aus seinem fetten Rücken die zu tief eingeschlagenen Fänge nicht wieder lösen konnte und so, als Opfer seines Opfers, schreiend und mit den Flügeln schlagend, an der Oberfläche des Wassers hingeschleppt wurde, bis er den Blicken der staunenden Zuschauer in den ferneren Wellen verschwand.
Es ist möglich, daß, wenn der gute Mann mit einförmiger und von der Seeluft (vielleicht auch dem Grog) etwas heiserer Stimme dies und ähnliches erzählte, er die strenge Grenze, welche die Wahrheit zwischen sich und der Übertreibung zieht, nicht immer einhielt. Ich möchte es wenigstens nachträglich ans dem behaglichen Lächeln schließen, das bei gewissen Stellen über das gute Gesicht des Vaters spielte. Aber wer dürfte dem Erzähler von Abenteuern sein gutes odysseeisches Recht schmälern? Wie wir weiter unten sehen werden, hatte der Knabe, der da mit großen Augen an den Lippen des Wundermauns hing, alle Ursach, mit seinen Bedenken zurück- znhalten, auch wenn sie ihm gekommen wären.
Sie kamen ihm aber nicht und konnten ihm nicht kommen, der so manches von dem, was da erzählt wurde, selbst
erleben durfte, und das ihm noch heute als ein halbes, ja als ein ganzes Wunder erscheint. So, daß er mit dem Leben bei folgendem Ereignis davonkam.
Er hatte auf eine große, dort „Seerabe" genannte Möwe, die auf der äußersten, bereits vom Wasser stellenweise überfluteten Spitze der Insel saß, fehlgeschossen. Der mächtige Vogel erhob sich, fiel aber nach einem zweiten Schüsse aufs Wasser zurück, nicht tot, da er weiter schwamm, sondern nur flügellahm. Die abgeschossene Flinte auf den Sand legen, mich der Kleider entledigen, in das Wasser laufen, bis es tief genug
zum Schwimmen wurde — es war das Werk von wenigen
Minuten. Da schwammen wir denn beide: ich und etwa hundert Schritte vor mir der arme Vogel, der nur manchmal den Kopf ein wenig nach mir zurückwandte. Der Zwischenraum, wie sehr ich mich auch abmühte, blieb derselbe, — stsrir oliE i8 lang; 6lla86, sagt der Engländer, — ich mußte endlich die augenscheinlich hoffnungslose Jagd aufgeben. Zu meinem Befremden sah ich nun, wie weit ich mich von der Insel entfernt hatte; aber das Befremden wurde zum Schrecken, als ich bemerkte, daß ich mich, trotzdem ich rüstig genug schwamm und
die See spiegelglatt war. meinem Ziele nicht nur nicht näherte, sondern ganz zweifellos weiter von demselben abtrieb. Ich hatte von dem Strom gehört, der, je nach dem Stande des Wassers, mit wechselnder Kraft um die Spitze der Insel lief. In diesen Strom war ich geraten. Das mußte ich mir sagen, sagte es mir auch, und daß, wenn ich das Herzklopfen, welches mich bei der schauerlichen Gewißheit überkommen hatte, nicht bändigte, ich rettungslos verloren sei. Ich war, wie ich mich denn auch sonst durchaus frei bewegen durfte, allein auf meine Expedition gegangen; auf dem svnneüberglünzten Strande, dessen äußerster Rand längst für mich versunken war, zeigte sich niemand; und wer, wenn sein Blick nicht zufällig die Richtung nahm, Hütte den Punkt im Wasser, der mein Kopf war, bemerken sollen? In dem Moment, als mir meine gefährliche Lage klar geworden war, hatte ich mich auch darüber schlüssig gemacht, was ich zu meiner Rettung thun müsse. Ich mußte, um nicht immer weiter abzutreiben, mich seitwärts wendend, die letzte Kraft daran setzen, aus dem Strom zu kommen. War mir das gelungen, wollte ich, in dem Wasser still auf dem Rücken liegend, — was ich gut verstand, — ruhen, bis ich im stände sein würde, die eigentliche Rückfahrt anzutreten.
Zweifellos unter dem Schutz einer gnädigen Leukothea — obgleich ich sie nicht sah — nicht einmal in der Form eines Wasserhuhns — und sie mir auch keinen Schleier zurückließ — habe ich dies Programm ausführen können und bin nach ich weiß nicht wie langer Zeit an einer von meiner Ausfahrt weit entfernten Stelle wieder ans Ufer gekommen, zwar „kraftlos von der schrecklichen Arbeit und der Stimme beraubt und des Atems," aber nicht, ohne mir, als ich — wie ich wohl notgedrungen mußte — mein Abenteuer beichtete, eine väterliche Strafpredigt zuzuziehen. Eine sehr milde, gütige, denn er war allezeit die Milde und die Güte selbst, der liebe Vater. Und hatte ich nicht der Moral, iu die sie doch auslaufen mußte: daß, wer sich in Gefahr begiebt, darin umkomme, indem ich glücklich der drohenden Gefahr entrann, die Spitze abgebrochen ?
Eine andere Moral und die mir für mein Leben ein Leitstern geworden, zog ich selbst aus einem zweiten Abenteuer, das mir nicht minder in treuem Gedächtnis geblieben ist, obgleich es dabei keinerlei Gefahr zu bestehen gab.
(Fortsetzung folgt.)
Groß- und Weinrussen.
Von
Kcrrt' Gmit Iranzos.
II.
Der nächste „freigewühlte" Hetman war ein russischer Oberst, Skoropadski; dies Detail ist bezeichnend; Kleinrußlnud wurde behandelt, als ob es nicht gegen, sondern für Mazeppa gekämpft Hütte. Auch nachdem dieser militärische Despotismus aufgehört, wurde energisch und rücksichtslos centralisiert, die Wehrverfassung geändert, die Bevölkerung zwangsweise übersiedelt, um Raum für großrussische Kolonieen zu gewinnen, die alte Gemeindeverfassung beseitigt, die Leibeigenschaft eingeführt, der Adel mit moskowitischen Elementen versetzt. Die Hetmans- würde war nicht viel mehr als ein bloßer Titel geworden, welchen die Regierung an irgend einen staatstreuen Magnaten der Provinz verlieh. Ein solcher Mann war auch der letzte