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Deutschland.
zu verdächtigen suchten, bezogen die ersten Romanows und ihre Bojaren die Erzieher für ihre Söhne aus Kleinrnßland. Der Gedanke, nun einen ähnlichen Vorgang im großen einzuhalten, lag nahe und mußte insbesondere jenem Zaren, unter dem die politische Annexion erfolgte, Alexei Michailowicz, dem Vater Peters des Großen, einleuchten; er war selbst von einem Kiewer Priester erzogen, des Kleinrussischen mächtig und — gleich seinen beiden nächsten Nachfolgern, Feodor und Sophia — bereits von einem gewissen Bedürfnis nach Bildung und einer instinktiven Achtung vor der Kultur erfüllt. Dem Norden die Errungenschaften des geistig vorgeschrittenen Südens zuzuwenden, mußte diesen Regenten au sich wünschenswert erscheinen; auch die uralte Tradition wies sie auf denselben Weg — schon fünfhundert Jahre znvor hatten ja Moskau und Nowgorod ausgenommen, was Kiew geschaffen, — und ebenso der Bann ihres dumpfen Glaubens: Lehrmeister durfte nur der rechtgläubige Süden sein, nicht der papistisch-lutherische Westen. Wenn also Zar Alexei wiederholt die „russischen Schriften, welche im Süden verfaßt werden," als einen „Stolz Rußlands" rühmte, so war dies zwar eine politische Tendenzlüge, aber zugleich eine Demonstration für seine Bilduugsplüne.
Dasselbe Doppelspiel der Beweggründe wird auch an der Wahl des ersten und wichtigsten Mittels zum Zwecke offenbar: der Berufung der hervorragendsten kleinrussischeu Schriftsteller und Priester nach Moskau, wo ihnen Geld und Ehren im Überflüsse winkten. Da dies zur selben Zeit geschah, als die Vergewaltigung des Volkstums im Süden begann, so pflegen die großrussischen Historiker häufig den Schluß daraus zu ziehen, daß es mit der letzteren nicht so schlimm gewesen sein könne. Und doch sind diese Berufungen nur ein Glied derselben Kette, und vielleicht das wichtigste: die Nation verlor ihre besten Männer zu einer Zeit, da sie ihrer am meisten bedurfte. So wurden, um nur die hervorragendsten Namen zu nennen, Simeon Poloeki und Demetrius Rostvwski, beide Theologen und thütig auch als Dramatiker, als Kirchenfürsten nach dem Norden berufen, elfterer nach Moskau, letzterer nach Tvbolsk; so kam der hochgebildete Mönch Medwedjew, der nachmals der erste Bibliograph Rußlands wurde, als Erzieher an den Zarenhof; so fanden die nachmaligen intimsten Vertrauten Peters des Großen, Jemilian Ukrainzew und Theophan Pro- kopowiez, elfterer als Diplomat, letzterer als Metropolit von Pskow, so Stephan Jaworski als Vorsitzender des Shuods im Norden einen glänzenden Wirkungskreis. Der geringeren Geister, welche auf ähnliche Bahnen geführt wurden, können wir hier nicht namentlich gedenken; sie zählen nach Dutzenden. Es wird uns nicht verwundern, zu hören, daß bei all diesen Berufungen nicht bloß dem nordischen Mönchstum gegenüber, welches sich begreiflicherweise aus Künkurreuzgrüudeu heftig gegen die Invasion dieser gebildeten Elemente sträubte, sondern auch ohne sonstige ersichtliche Veranlassung stets betont wurde: die Berufenen seien nach Glauben und Sprache ganz echte Russen, und noch weniger verwunderlich wird es uns erscheinen, daß in scharfem Gegensätze zu dieser Behauptung gleichzeitig die Mahnung au diese Männer gerichtet wurde: so zu sprechen und zu schreiben, „daß man sie verstehen könne," — wohl aber ist es eine überraschende und der Erklärung bedürfende Erscheinung, daß sie sämtlich dem Rufe der Regierung folgten, und dann mehr oder minder nachdrücklich in dem anbefohlenen Sinne wirkten. Zwei Motive sind hierbei zu berücksichtigen, ein äußeres und ein inneres: alle diese Männer hatten in der Heimat den Druck schlimmer materieller und sozialer Verhältnisse zu ertragen; sie waren karg entlohnte Priester oder Lehrer, die in den Augen der herrschenden Kaste zur Plebs zählten; der Woiwode, der katholische Priester, der polemisierte Adelige blickten höhnisch auf sie herab; auch offene Gewaltthat war ja nicht selten. Wie mächtig mußte auf sie die Verlockung wirken, plötzlich aller Sorgen enthoben zu sein und um derselben Thütigkeit willen, welche ihnen bisher Kummer und Gefahr gebracht, in einem mächtigen Nachbarreiche einen glänzenden, selbst den kühnsten Ehrgeiz befriedigenden Wirkungskreis zu erhalten! Noch wichtiger aber muß
der Umstand erscheinen, daß sie sich der Tragweite ihres Entschlusses für ihre eigene und ihres Volkes Zukunft nicht bewußt waren, ja nach ihren Anschauungen und der Lage der Verhältnisse gar nicht bewußt sein konnten. Sie waren Kämpfer gegen ein Volk, welches sich in Glauben lind Sprache von dem ihren unterschied; daß sie dabei auf den Glauben größeres Gewicht legten, war durchaus natürlich, weil dieser herbere Angriffe zu erdulden hatte; sie waren ferner in ihrer Eigenschaft als Priester oder Halbpriester Lehrer an Brüderschafts- Schulen; in Rußland aber war ja ihre Kirche die unbedingt herrschende. Daß ihnen der nationale Gegensatz zu ihren nordischen Glaubensgenossen nicht fühlbar gewesen, läßt sich freilich nicht behaupten, nur hielten sie ihn für keinen unversöhnlichen; die einen nahmen sich vor, ihre litterarische Thütigkeit in beiden Sprachen fortzusetzen: andere, und gerade die Begabtesten, hegten, wofür deutliche Anzeichen vorliegen, noch viel stolzere Träume: ihre Sprache war ja die weitaus entwickeltere; es war vielleicht nicht unmöglich, sie zur herrschenden Litteratur-, ja zur Staatssprache zu machen, wie ja schon einst der Süden den Norden nicht bloß litterarisch, sondern auch sprachlich sehr wesentlich beeinflußt hatte. Kurz, als bewußte Renegaten sind diese Männer nicht nach dem Norden gegangen, im Gegenteil, voll der besten Vorsätze, ihren Einfluß zu Gunsten ihres Volkstums zu nützen, und daß es dann anders kam, ist gleichfalls nur bis zn einem gewissen Grade ihre Schuld. Eine Stimme in rein politischen Dingen räumte ihnen die Negierung von vornherein nicht ein; nur gegen Polen und Jesuiten durften sie soviel nnd so energisch predigen und schreiben, als ihnen irgend beliebte; wagten sie es jedoch, der Privilegien der russischen Ukraine Erwähnung zn thun, so wurde ihnen so nachdrücklich bedeutet, daß des Dichters nnd Priesters Reich nicht von dieser Welt sei, daß sie verstummen mußten, wenn sie nicht ans ihren warmen Bischofs- und Professorenstnben nach dem kalten Sibirien versetzt sein wollten. Es ist richtig, daß sich keiner unter ihnen dieser Gefahr anssetzte; aber aus der ersten Zeit dürfte sich zum mindesten auch kein Beispiel für das Gegenteil anführen lassen. Erst von 1750 ab findet jener würdige Geheimrat Teplow, welcher, obwohl Kleinrnsse von Geburt, die Rnssisiziernng seiner Heimat besorgte, eifrige Nachahmer.
Nicht ohne Grund haben wir diese Erscheinung so eingehend zu erklären versucht; ist sie doch an sich unerhört, denn wann Hütte je ein Volk dem anderen binnen zweier Generationen seine Schriftsteller, seine Litteratur nnd Kultur annektiert'?! Alan vergesse nicht: es handelte sich um zwei verschiedene Sprachen, zwei verschiedene Völker, deren Gegensatz sich niemals verwischt hat, auch nicht in diesen: Abschnitt ihrer Entwickelung. Die erste Generation schreibt zunächst kleinrnssisch, dann setzt sie ihre Thütigkeit in beiden Sprachen fort; nnd hei der zweiten ist es ebenso, nur daß sie in der Folge nur noch großrussisch schreibt. Erst die dritte Generation beginnt sofort in der fremden, erlernten Sprache, weil sie dieselbe bereits in der Schule anfgezwnngen erhalten hat, und jedes gedruckte Wort in der Muttersprache verpönt ist. Denn nachdem die friedlichen Mittel ihre Wirkung gethan, sehen wir nach einiger Zeit auch die Gewalt hinzntreten; bereits 1721 wird der „besondere Dialekt" scharf gerügt; dann macht die Censur den kleinrnssischen Werken immer größere Schwierigkeiten, hierauf wird die Kiewer Akademie rnssisiziert, bis endlich ohne jede Verschleierung die brutale Parole ausgegeben wird: „Schreibet großrussisch oder- gar nicht!" Der Druck kleinrnssischer Bücher wird verboten, jeder Schriftsteller in dieser Sprache als ein politischer Verbrecher, als ein Alaun, der „das Zeitalter der Hetmane herbeiführen wolle," bestraft.
Die Frage, wieviel der Norden dadurch gewonnen, beantwortet ein Blick ans die großrussische Litteratur des 17. nnd 18. Jahrhunderts. Woher stammen ihre Schriftsteller'? In der Theologie thun sich vor Peter dem Großen Poloeki, Rostowski, Slawineeki hervor, auf dem Gebiete der Annalistik Medjedew, das geistliche Drama pflegen als die Ersten Poloeki und Rostowski; sie sind insgesamt Kleinrussen. Wer verrichtet, nachdem Peter der Große die plötzliche und massenhafte Ver-