^ 4.
Deutschland»
Seite 73.
fertigung von Übersetzungen angeordnet, diese Arbeit? Neben einigen Ausländern die Kleinrnssen Buzinski, Kochanowski, Lo- patinski und Krolik. Wer tritt im 18. Jahrhundert als der erste Vertreter westlicher Aufklärung, als der eigentliche Begründer einer national-russischen Bildung an Peters Seite? Der Kiewer Theophan Prokopowiez, der Verfasser des berühmten „geistlichen Reglements." Und an der Spitze seiner theologischen Gegner steht abermals ein Kleinrnsse, Stefan Jaworski. Auch die Jnterlndien kommen auf dem Umwege über Kiew nach Moskau, und der erste bedeutendere Dichter Großrußlands, Demeter Kantemir, ist allerdings ein in Konstantinopel geborener Rumäne, steht aber, ein Jünger Theophan Prokopowiezs, völlig im Bannkreise der Kiewer Schule; ihr entnimmt er die Form: den gezählten, nicht betonten Vers, ihr die scholastische, pseudo-klassische Richtung, der er dann freilich in der Folge auch andere Elemente beimischt. Und selbst der großrussische Dramatiker Lomonossow steht noch im Zwange der scholastischen Rethorik der zweiten Blütezeit. Selbst großrussische Historiker, sofern sie gerecht sind, müssen dies anerkennen; „diese Litteratnr," sagt z. B. Pypin, „ist nicht spurlos verschwunden, sondern hat sich in die russische Litteratnr im gesamtrussischen Interesse ergossen, und dies bildet ihr historisches Recht und Verdienst." Dieser letztere Satz kehrt sich gegen jene, welche diese Aufsaugung zwar nicht leugnen, aber als unheilvoll schelten, weil die Kleinrussen eben auf einem scholastischen, also im Westen längst überwundenen Standpunkt gestanden und diesen der jungen russischen Litteratnr eingeimpft haben. Dagegen aber ist zu erwidern, daß dieser „überholte Standpunkt" immerhin einen ungeheuren Fortschritt gegen die nutoch- thone Barbarei bedeutete, und daß er den direkten Einfluß des Humanismus wie der realen Bildung nicht etwa hinderte, sondern vorbereitete; ohne diese „rechtgläubigen" Erzieher wäre ihren protestantischen und katholischen Nachfolgern das Ohr des Volkes verschlossen geblieben.
Während die Kleinrnssen so die Lehrer und Erwecken des Nordens wurden, glich ihre eigene Litteratnr immer mehr einem Flußbett, dessen Wasser gewaltsam abgeleitet worden: quillt noch zuweilen Wasser ans, so kommt es aus den Quellen im Geröll. Die Kleinrnssen waren, sagte ich schon, am Ausgange des vorigen Jahrhunderts wieder ein Haufe von Leibeigenen und Priestern, ihre Sprache ein verachteter Dialekt geworden. Selbst der Handwerker schämte sich seiner heimischen Sitte und Sprache, geschweige denn der Soldat, der Beamte, der Adelige; gedruckt wurde keine Zeile mehr, — aber noch sang das Volk die Weisen aus Vätertagen und fügte neue hinzu, noch lebte und blühte das Volkslied.
Ans dem Volkslied erwuchsen dreißig Jahre später die ersten Keime einer neuen Litteratnr: zuerst sammelte man die Lieder, dann fanden sich Poeten, die selbständig im Volkston dichteten, darunter eines der schönsten und stärksten Talente, die je in einer slavischen Sprache geschaffen, Taras Szew- ezenko. Aber diese litterarische Wiedergeburt des Verstummten Volkes zu schildern, liegt außerhalb des Rahmens dieser Darstellung. Für unsere Zwecke genügt es, anszusprechen, daß sich das geistige Leben unter den Kleinrussen nicht etwa mit Hilfe der Regierung, sondern trotz des äußersten, grausamsten Drucks der Staatsgewalt entfaltete. Diese geistige Wiedergeburt wurde durch dieselben Umstünde herbeigeführt, wie bei den Westslaven: die von der deutschen Forschung begründete historische Richtung, die von der Romantik ansgegebene Losung, in Lied und Sage den Jungbrunnen jedes Volkes neu zu erschließen: auch die wachsende Volksbildung und die freiere Strömung in den großrussischen Gesellschaftskreisen trugen hierzu bei. Aber während z. B. die unter „fremdem Joche schmachtenden" Tschechen sich frei entfalten durften, ja sogar gerade von den Deutschen thntkrüftig gefördert wurden, unterdrückte die russische Regierung nach wie vor jedes Buch, das im „verderbten Dialekt des «Südens" geschrieben wurde, und in der Volks-, geschweige denn gar in der Mittelschule durfte offiziell kein kleinrnssisches Wort gesprochen werden. Erst um 1830 führte die erhöhte Sorgfalt und Aufmerksamkeit, welche die österreichische Regierung den in Galizien
lebenden Kleinrussen, den „Nuthenen," zu widmen begann, eine Linderung dieses Druckes herbei; die Censur sollte fortab nicht mehr jedem Buch in der verfemten Sprache das „Imprimatur" verweigern, sondern mir den kleinrnssischen Werken „besondere Beachtung widmen," also noch vorsichtiger sein, als bei großrussischen, polnischen oder deutschen Manuskripten. Aber so rechtlos und willkürlich dieser Zustand war, so erschien er doch der russischen Regierung viel zu liberal: im Jahre 1846 wurde wieder eine „feste Norm" gegeben, die festeste, die irgend denkbar ist. Der Volksbildungs-Verein, den die Kleinrussen in Kiew begründet, die „Cyrill- und Method-Brüderschaft" wurde aufgelöst, die Censur neuerdings angewiesen, auch nicht eine Zeile zum Druck zuznlassen; gleichzeitig entlud sich über den Schriftstellern ein furchtbares Strafgericht; wer irgendwie an der Wiederbelebung der Nation mitgewirkt, wanderte in den Kerker. Als 1850 in Lemberg eine Broschüre erschien, welche die nationale Einheit der galizischen „Rnthenen" und der ukrainischen Kleinrnssen betonte, erwiderte die moskowitische Presse: dann seien die Rnthenen Russen, denn eine kleinrnssische Nation habe es nie gegeben, und jetzt davon zn sprechen, sei vollends „Wahnsinn und Lüge."
Es war aber doch Vernunft und Wahrheit. Ihrer Führer beraubt, von der Faust der Staatsgewalt niedergehalten, ohne Presse und Schule, in ihrer geistigen Nahrung auf den Schmuggel aus den österreichischen Druckereien angewiesen, harrten die Kleinrussen aus, bis ihnen der Regierungsantritt Alexander II. bessere Tage brachte. Das Censnrverbot wurde aufgehoben, die Führer kehrten ans dem Kerker und der Verbannung zurück; das Kleinrussische hielt seinen Einzug in die Volksschule, aus der es freilich naturgemäß niemals und durch keinen Ukas hatte ganz verdrängt werden können, da ja Lehrer und Schüler sich nie in verschiedenen Sprachen verständigen können ; auch Zeitungen, wenngleich zunächst nur belletristischen Inhalts, durften erscheinen. Die zwanzig Jahre von 1856 bis 1876 dürfen als die beste Zeit gelten, welche den Kleinrnssen jemals unter moskowitischer Herrschaft beschieden war: die Regierung förderte ebensowenig, als sie hemmte, und das genügte dem strebsamen, durch Intelligenz und Zähigkeit ausgezeichneten Stamme, um sein Sonderleben als Nation für alle Zeit zu festigen.
Daß der Versuch, die Kleinrnssen zn unterdrücken, immer wieder unternommen wurde, von der moskowitischen Presse durch das Wort, von der Regierung durch die That, darf nicht verwundern. Nachdem bis 1876 die Herren Katkow und Genossen in wechselnder Tonart, bald „die Verblendung der südlichen Brüder" bejammernd, bald gegen die „verbrecherischen Nihilisten und Partiknlaristen" donnernd, ihre Schuldigkeit ge- than, schritt endlich auch die Regierung zur That: wieder durfte in kleinrnssischer Sprache keine Zeitung herausgegeben, kein Buch gedruckt, kein Theaterstück gespielt, kein Vortrag gehalten werden; selbst das A-B-C und Einmaleins sollte den Kindern, die ja thatsächlich ohne Vorbildung keinen großrussischen Satz verstehen können, in der Reichssprache beigebracht werden. Die Folge war nur, daß die nihilistische Strömung im Süden in geradezu erschrecklicher Weise anwnchs, und die Kleinrnssen der Staatsgewalt allmählich mit annähernd denselben Empfindungen gegenüberstanden, wie die Polen. Dies wurde denn schließlich auch an der Newa begriffen und beherzigt, und seit 1883 versucht man es mit einer neuen Methode: die Zügel werden etwas gelockert, und die List soll leisten, was der Gewalt unmöglich war; man versucht die Gründung einer Partei, welche das Volk unmerklich ans dem Wege der Schule, Presse und Litteratnr durch sachte Assimilierung ins großrussische Lager hinüberleiten soll.
Auch dies wird vergeblich sein, und zu welchen Mitteln dann auch die Regierung greifen wird, sie werden sich als ebenso ohnmächtig erweisen, wie die bisher angewandten. „Wir sind — wir bleiben" — an diesem schlichtesten und wirksamsten aller Programme vermag keine Macht der Welt ein Tüpfelchen zu ändern. Daß und warum diese Haltung der Kleinrussen der Regierung Peinlich ist, bedarf nicht erst aus-