Deutschland.
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leid mag er noch erregen; aber Furcht und Mitleid gehören eben nur noch in ein Museum für Altertümer.
Es hat sich gefügt, daß ans derselben Bühne des „Berliner Theaters," unmittelbar vor „Markgraf Waldemar," der „Demetrius" wieder nnfgeführt wurdet Schillers falscher Dmitri hat von Shakespeares königlichen Usurpatoren nicht die kluge Rücksichtslosigkeit, sondern nur die Größe der Erscheinung. Auch Schillers Dmitri, besonders in Laubes Anstücke- lnng, geht an Sentimentalität und Weibergeschichten zu Grunde, obwohl Schuld und Sühne nicht ganz reinlich zurecht gemacht sind. Wilbrandt aber hat alle Fehler von Schiller und von Laube vereinigt; er hat einen Theaterhelden geschaffen, der bestenfalls die Herzen der Zuschauer, niemals aber ein Land, und wäre es auch nur eine Markgrafschaft, erobern könnte. Wilbrandt will königliche Dinge darstellen, hat aber keine Augen fiir die veränderten Gesetze dieser großen Verhältnisse.
Im schönsten Gegensatz dazu hat sich Paul Lindau in seinem neuen Schauspiel an Verhältnisse gehalten, die er genau kennt; seine Menschen steigen nach ihrer sozialen Stellung von der Operettensüngerin bis zum Kommerzienrat und Ministerial- beamten hinauf. Es war also gar nicht notwendig, gleich ein Shakespeare zu sein, um diese Welt richtig zu schildern.
Sein Mißlingen ist mit einem Worte erklärt; er hatte den Stofs zu einer Tragödie in der Hand und formte ihn aus -schwäche zu einem Schauspiel. Es ist das nicht bloß eine Frage des Theaterzettels. Er giebt uns die Geschichte eines höheren Beamten, der seine Maitresse, eben die kleine Operettensängerin, trotz ihrer befleckten Weiberehre zu seiner Frau und zur Baronin macht und der sie, als die kleinen Ärgernisse nicht ansbleiben, durch geradezu nichtswürdige Behandlung znm Selbstmorde treibt. So wäre denn „die Gesellschaft" wieder einmal die Mörderin? Bewahre! Ein ganz mühsam ausgeklügelter Zufall will es, daß der erste Verführer der Operettensängerin der Bräutigam von der Schwester des Barons wird; und erst dieser Zufall ist im stände, das Stück weiterznführen. „Der Schatten" muß erst lebendig werden, bevor Lindau ihn in seiner Handlung gebrauchen kann. Es ist ein Rätsel, wie Lindau, ohne Frage einer unserer begabtesten Schriftsteller und ungewöhnlich feinfühlig gegenüber den Absichten anderer Dichter, in seinem eigenen Schaffen seit mehr als zehn Jahren immer mehr an der Oberfläche seiner eigenen Probleme hängen bleibt.
Nachdem er seine soziale Tragödie in ein Znfallsdrama nmgeformt hatte, konnte es immer noch ein fesselndes und bedeutendes Werk werden; Lindau brauchte nur seine gute Menschenkenntnis zu verwerten und eine tolle, im Herzen ehrliche Operettensüngerin neben einem jämmerlich feigen, egoistischen, beschränkten Baron zu zeichnen und so auch die Nebenpersonen. Anstatt dessen bekommen wir Figuren ans den Romanen der Marlitt oder — wenn das hübscher klingt --7 aus denen von Georges Ohnet: einen sterbenden, aber immer noch Besuche machenden Vater, einen alten, treuen Diener, ein Backsischchen, eine biedere, alte Freundin. Alle rührend, alle unwahr. Am unwahrsten aber die beiden Hauptpersonen. Vortrefflich hat Lindau zwar einzelne Nebensachen der beiden Häuslichkeiten getroffen; er weiß ganz genau, wie die Gäste bei der Operctten- dame wie in einem Wirtshanse ans und ein gehen, wie der Ministerialbeamte Meldungen seines Chefs empfängt, aber wie diese beiden Menschen innerlich zu einander stehen müssen, scheint er nicht zu ahnen. And wir könnten uns am Ende entschließen, dem alten Spötter Lindau seine tugendhafte Operettendiva und den schwärmenden Baron — der erst wild wird, da seine Ehe es nicht mehr ist — zu glauben, wenn er diese Phantasiegestalten wenigstens selbst deutlich gesehen hätte; sie sind aber nicht nur unwahr, sie sind nicht einmal einheitlich gezeichnet, sie sind vom Dichter weder in der Wirklichkeit gesehen, noch in seinem Geiste. Sie sind einfach für das Theater erfunden.
So mangelt dem Stücke ebenfalls der Realismus, der in diesem mittleren Kreise von einem so klugen Antor leicht zu treffen gewesen wäre. Wenn Wilbrandt für die Kümpfe von
Fürste» nicht deutlich genug sah, so läßt sich nicht annehmen, daß Lindau die Berliner Gesellschaft nicht kennt; aber er zeichnet sie nicht, wie er sie sieht, er retouchiert nicht mehr, er schminkt. Darum macht „der Schatten" einen so unechten Eindruck, als ob Lindau ein mittelmäßiges Stück von einem Franzosen übersetzt Hütte.
Der Dichter des dritten Stückes, Gerhärt Hanptmann, ist ein entschlossener Realist; aber er hat sich die Wahrheit leicht gemacht. Er führt uns weder in den Streit der Könige und seinen besonderen Gesetzen, noch in die Konflikte der großstädtischen Gesellschaft, die sich so wunderbar kreuzen, — er zeigt uns die vertierten Seelen von trunkenen Bauern. Der Realismus ist die einzig wahre Knnstform, er ist eigentlich die Kunst selber; aber dieser Realismus, welcher bei Homer und Shakespeare alle Höhen und Tiefen ausmißt, die Götter und Könige ebenso genau kennt, wie den Theositos und Dortchen Lakenreißer, dieser ewige Realismus macht es sich in der Maske des Naturalismus so bequem, nur die Armen am Geiste zu seinen Modellen zu nehmen. Dadurch wird der Realismus, der doch die Kunst immer wieder verjüngen müßte, so quälend einförmig wie bei Zola.
Trotzdem ist das soziale Drama von dem unbekannten Hanptmann eine beachtenswertere Erscheinung als die mittelmäßigen Arbeiten der berühmten Wilbrandt und Lindau. Es ist eine der Nntnrstimmen, welche das Nahen des Tages ankündigen; niemand wird sagen, daß das Hnhnenkrähen ein schöner Gesang sei, und doch liegt Morgenstimmnng darin. „Vor Sonnenaufgang" ist da, der Hahn hat gekräht, und das Publikum ist erwacht.
Die Handlung des Stücks läßt sich in wenige Worte zn- sammenfassen. Der sozialistische Schwärmer Alfred Loth betritt das Hans eines steinreichen schlesischen Banerngntsbesitzers. Er verliebt sich auf der Stelle in Helene, die Tochter erster Ehe, ein gutes, frisches Mädchen, welches ihn wieder liebt, sich übrigens jedem andern an den Hals werfen würde, weil es sich ans ihrer grauenhaften Familie heranssehnt. Ihr Vater ein bestialischer Säufer, ihre Stiefmutter ein lasterhaftes Frauenzimmer, das mit einem Vetter, Helenens Bräutigam, ein Verhältnis hat, ihre Schwester wieder eine Gewohnheitstrinkerin, ihr Schwager ein haltloser Genußmensch, der sie selbst mit Liebesanträgen verfolgt. So stehen die Sachen; Loth würde sich aber vielleicht über alles hinwegsetzen; nur daß in der Familie der Alkoholismns erblich ist, geht gegen seine Grundsätze. Er will eine gesunde Frau haben; darum verläßt er die Geliebte, die sich denn sofort mit einem Hirschfänger den Tod giebt.
Diese Handlung scheint so wenig vorwärts zu rücken wie in einen: naturalistischen Romane. Trotzdem wäre ihre innere Kraft und die Spannung, welche, wie bei Ibsen, von der „Anf- dröselnng" der Charakter ausgeht, groß genug, um einen reellen Bühnenerfolg zu erzielen, wem: der Dichter schon heute auf der Höhe seines Könnens stünde, und wenn das Publikum nicht im Banne der thörichtesten Prüderie sich befände. Das zwingende Talent Hanptmanns hat nach manchen Führlichkeiten sowohl über seine eigenen Fehler wie über das Übelwollen der Prüderie gesiegt; aber der Sieg hing an einen: Haare.
Die Fehler des Dichters bestehen glücklicherweise nirgends in Unvermögen, sondern teils nur in vorgefaßten Meinungen, teils in zu starker Anlehnung an seine Muster. Zn den vorgefaßten Meinungen gehört namentlich die Vorliebe für starke Worte und starke Dinge auch da, wo das Mildere stärker gewesen wäre. Es ist schrecklich genug, daß der Vater Helenens in tierischer Trunkenheit über die Bühne wankt: daß er auch noch sogenannte Liebesgedanken hegt — was trotz „Produktiver" Striche noch deutlich genug blieb — bringt ein fremdes Element in die einfache Geschichte. Hanptmann steht da offenbar unselbständig unter den: Einflüsse Zolas, der sich als Franzose auf die größere Natürlichkeit der lateinischen Rasse berufen darf.
An Ibsen dagegen erinnern im Guten und Bösen die edleren Gestalten Hanptmanns. Er hätte den elenden Hoffmann und den rücksichtslosen Schimmelpfennig nicht vor Ibsen schassen könne::; Ruhm genug, daß der Abstand kein zu großer ist.