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Aber eine Hauptfigur ist ihm mißglückt, weil er zu sehr Ibsen sein wollte: der Agitator Alfred Loth. Hier ist es dem Publikum nicht so übel zu nehmen, daß es au der Absicht des Dichters irre wurde. Er wollte sicherlich einen einseitigen, unreifen, verschrobenen Menschen darstellen, hat aber noch etwas unreif seine subjektiven, pathetischen Weltverbesserungsvorschläge in ihn hineingelegt. Daß Loth seine Braut sitzen läßt, nachdem er den Potatoren-Charakter ihrer Verwandten erfahren hat, wirkt als Brutalität, weil er vorher ganz Schwärmer war. Ein Buch gegen den Alkoholismus darf so schließen; eine Dichtung darf ihren Helden nicht ans einen Lehrsatz stellen. Alfred Loth ist noch zu sehr ein Liebling des Verfassers; er hat sich noch nicht genug emancipiert.
Die Stücke von Wilbrandt und Lindau sind von ihrem Publikum mit dem üblichen Applaus ausgenommen worden. Als aber um die Mittagszeit des Sonntag Hauptmanns „Vor Sonnenuntergang" in einer vortrefflichen realistischen Darstellung zu Worte kam, da entspann sich zwischen Gegnern und Freunden der neuen Richtung ein heißer Kampf. Jeder Freund der Litteratur kann dies Aufeinanderplatzen der Geister nur willkommen heißen; um die Schablone können sich die Gemüter niemals so sehr erhitzen.
Was schließlich die Zischer niederzwang, waren nicht die Freunde des Realismus, sondern die dichterische Kraft des Stückes. Namentlich die große Liebesscene im vierten Akte, der wenig Ebenbürtiges an die Seite zu stellen ist, beweist, daß Gerhart Hnuptmann eine Zukunft hat. Und im Reiche der Kunst ist, wem die Zukunft gehört, mächtiger als die Männer der Vergangenheit und der Gegenwart.
Kleine Kritik.
Bischer-Erinnerungen. Ein Beitrag zur Biographie Fr. Th. Wischers von Ilse Frapan. (Stuttgart, G. I. Göschensche Verlagshandlung, 1889.)
Der alte Bischer war einer der freiesten Geister unserer Zeit. Als Dichter und Kritiker darf er nur mit den Ersten gemessen werden. Überdies aber war er eine solche Persönlichkeit, daß seine Leser sich mit der litterarischen Verehrung nicht leicht begnügen, ihn vielmehr selbst lieben lernen. Wie es Schriftsteller giebt, so dumm, daß man über ihre Bücher hinweg sie selbst verächtlich findet, — so lenkt Bischer unbewußt alle Begeisterung seiner Gemeinde auf seine Person. Die Erinnerungen von Ilse Frapan werden darum jedem Deutschen, der seinen Bischer bewundert, willkommen sein. In frischester Darstellung, welche selbst wieder eine Dichternatur verrät, hat die Verfasserin den jugendlichen Greis auf der Lehrkanzel, in seinem Hause und in der Stuttgarter Gesellschaft geschildert. Alles ist, trotz der kecken Subjektivität der Darstellung, dankenswert. Nur an zwei Stellen begeht Ilse Frapan unbegreifliche Taktlosigkeiten, indem sie mündliche Ausfälle gegen lebende Schriftsteller mit vollem Namen wiedergiebt. Das war wohl nicht im Sinne des Verstorbenen. In dem ersten Fall handelt es sich nur eine Berliner Dame, gegen welche ein bekanntes Vifchersches Gedicht gerichtet ist: Bischer war Alauns genug, die Angegriffene selbst zu nennen, wenn er das für richtig hielt. Der zweite Fall betrifft den geistreichen und feinfühligen Ernst von Wolzvgen, dem Ilse Frapan vorwirft, er habe eines seiner Bücher dem alten Bischer ohne Erlaubnis gewidmet, habe überdies in seiner Anfrage sich Frechheiten erlaubt und in dem Widmnngsgedicht abermals Taktlosigkeiten begangen. Darauf habe Bischer „geschwiegen, um nicht sehr unfreundlich zu werden." Hier muß entweder den alten Herrn oder die junge Dame unbedingt das Gedächtnis verlassen haben. Ist es schon von vornherein schwer zu glauben, daß eine so vornehme Schriftstellernatur wie die Wolzogens seinen verehrten Bischer in dem Augenblicke anrempeln werde, da er ihm die Widmung eines Buches anbietet, so ist im folgenden Briefwechsel vollends die objektive Unwahrheit jener Be
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hauptung erwiesen. Ernst Freiherr von Wolzvgen schreibt an den Herausgeber dieses Blattes, nachdem er den Inhalt einer sehr freundlichen Vischerschen Postkarte („meine Zeit . . . reicht nur zu einfachem Ausdruck des Dankes für Ihr warmes Entgegenkommen") mitgeteilt hat, folgendermaßen:
Daß ich daraufhin mich nicht gerade genötigt fühlte, die schon gedruckte Widmung aus dem Satze meines Buches „Heiteres und Wer teres" entfernen zu lassen, dürfte den Borwurf der Frechheit wohl noch nicht rechtfertigen. Ich war aber damals dem alten, derbehrlichen Schwabeuprofessor eben ein beliebiger junger Faut, von dem er sonst nichts wußte, der wie zehntausend andere viel unnütze Tinte verspritzen mochte. Was Wunder, wenn er in vergnügter Gesellschaft, znmal wenn diese seineil Spott herausforderte, sich in seiner derben Art über diesen beliebigen jungen Fant lnstig machte, znmal wenn ihm der Scherz mit Ser „Glvria-Hvse" so nahe gelegt wird! Ich bin weit entfernt davon, mich durch diese, freilich durch die Veröffentlichung des Protokolls recht peinlich gewordenen Witzesprügel in meiner Verehrung für Bischer beirren zu lassen. Und glücklicherweise bin ich in der angenehmen Lage, Bischer selbst zum Zeugen gegen Fräulein Frapan anfzurufen; denn sobald der alte Herr zwei meiner ihm gewidmeten Novellen gelesen hatte, erfreute er mich mit den beifolgenden Zeilen voll warmer Anerkennung. Ich habe es bisher verschmäht, damit für mein Buch Reklame zu machen: jetzt aber muß ich Sie bitten, verehrter Herr Kollege, dieselben zu meiner Ehrenrettung und — hoffentlich zur Beschämung des etwas voreiligen Fräuleins Frapan in Ihrem geschätzten Blatte wörtlich abdrucken zu wollen.
Vischers Brief an Wolzvgen lautet:
B e rehrte r H err!
Haben Sie Nachsicht, in bin so vielsach in Anspruch genommen, vor allem durch meine Vorlesungen, bin mit Zusendungen, Korrespvn denzen so überhäuft, daß ich bis jetzt nur zwei Ihrer Novellen lesen konnte, möchte eingehend schreiben und kann doch jetzt nicht. Ich bitte Sie dringend, in der Kürze dieser Zeilen keine Indifferenz gegen die Wärme zu sehen, die Sie mir entgegenbringen, und nicht zu zweifeln, daß ich lebhaft das Talent, die Frische, die Bergegenwärtigungskrnft, die Tiefe der Welterfassnng, der Einheit von Ernst und Humor erkenne, die mir aus diesen beiden Erzählungen entgegenkommt. Da und dort finde ich zwar, daß diese noch einiger Abklärung bedarf,
aber dies will wenig sagen gegenüber dem Geistbeweis im ganzen, der die Ausreifung sicher in Aussicht stellt.
Empfangen Sie meinen besten Dank, erhalten Sie mir, trotz der Dürftigkeit dieser Zeilen, die Gesinnung, die mir ans Ihren Wid mungsversen so hell und warm entgegenkommt.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Ihr ergebener
Stuttgart, 26. Dezember 1886. Fr. Bischer.
Den „Bischer Erinnerungen" ist trotz alledem eine zweite Auflage zu wünschen, in welcher Ilse Frapan sicherlich gern patm xeomrvi sagen wird.
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Aus der Werkstatt eines Wörterbuchschreibers. Plaudereien von Daniel Sanders. (Berlin, Verlag von Hans Lüstenöder, 1889.)
Der verdienstvolle Sprachforscher Daniel Sanders, dessen deutsches Wörterbuch zu allen andern praktischen Vorzügen auch noch den zählt, fertig geworden zu sein, hat sich zu seinem bevorstehenden siebzigsten Geburtstag dieses anregende kleine Büchlein beschert. Es ist dem Gelehrten sonst versagt, den Laien in seine Werkstatt Hineinblicken zu lassen, weil dieser gewöhnlich weder für das Material, noch für dessen Behandlung Verständnis hätte. Ein Wörterbuchschreiber aber, der die Sprache mit Hilfe der Sprache bearbeitet, kann schon eher auf Verständnis rechnen, und so wird diese Schrift ohne Zweifel dazu beitragen, das Gefühl zu wecken und zu verbreiten, eine wie große und heilige Sache die Muttersprache sei. Und niemand wird es dem Verfasser übel nehmen dürfen, wenn er bei dieser Gelegenheit auf kleine Schwächen des Wörterbuchs der Brüder Grimm hinweist, welches ja übrigens viel engeren Zwecken dient, als das feurige. Noch weniger braucht Daniel Sanders zu fürchten, daß die kleinen biographischen Mitteilungen über sich selbst und seinen Vater dein Leser unwillkommen wären. —ü--
Deutschland.