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„Also, es ist etwas Wahres daran?" sagte er und schaute sich nach allen Seiten um. „Aber wenn ich mich recht erinnere, eine Kinderstimme war das nicht."
„Nein, nein," rief ich, „von einem Weibe kamen die Schreie."
„Aber wenn Du sie deutlich hörtest, warum wecktest Du mich nicht?"
Ich rechtfertigte mich, so gut es gehen wollte, und seine Besorgnis wuchs von Minute zu Minute.
„Rosenzweig muß mir Rede stehen!" rief er, und die Thür öffnend, schrie er mit Stentorstimme in den Hausflur hinaus den Namen des Wirtes.
. Nach einer Weile ertönte aus dem Dunkel dessen klägliche Stimme, die mir noch tausendmal kläglicher schien als tags zuvor.
„Laßt anspannen und bringt uns die Rechnung; aber Ihr selbst, bitt' ich mir ans!"
Draußen klirrten die Thüren, und wiederum nach einer Weile schob sich Rosenzweigs schlotternde Gestalt über die Schwelle. Er hielt ein Blatt Papier in der Hand, das er uns ehrfurchtsvoll entgegenstreckte. Dabei fiel mir ans, daß er sein Gesicht mit Absicht dem Lichte abznwenden schien. Und als er sich dennoch dem Fenster nähern mußte, wohin mein Freund sich zurückgezogen hatte, und der Tagesschein ihm plötzlich entgegensiel — da schrak ich in tiefster Seele zusammen vor dem Bilde, das sich mir bot.
Vollkommen entstellt und verwüstet war dieses Angesicht, die Angen quollen ans den geröteten Höhlen, tiefe, bläuliche Furchen zogen sich über die eingefallenen Wangen, und der breite, blutleere Mund verzog sich zu einem Lächeln, das devot sein sollte und in namenlosem Jammer erstarrte.
„Um Gottes willen, Rosenzweig," ries mein Freund, „kommt mal her. Ihr seht ja ans, als hätte auch bei Euch heute nacht der Tod gehaust!"
Der Wirt lächelte noch immer, während dicke Thränen ihm ans den entzündeten Angen liefen. Das Papier, welches er krampfhaft umklammert hielt, zitterte zwischen seinen Fingern.
„Rosenzweig, ich rate Euch, uns Rede zu stehen," sagte mein Freund, den Wirt bei beiden Schultern fassend, so daß er unter der Last der ihn schüttelnden Fäuste fast zusnmmen- brach. „Das kleine Wesen hier — ist tot; es fragt sich sehr, ob Ihr nicht schuld daran seid."
Aber so leicht sich Rosenzweig sonst einschüchtern ließ, diesmal zeigte er keine Angst. Er stellte sich vor die kleine Leiche hin und wackelte mit dem Kopfe, daß die schwarzglünzenden Paises vor den Ohren hin und her flogen; dann sagte er:
„Der Herr Israels hat gehabt Erbarmen mit Dir kleines Goi, daß er Dich hat ausgenommen in seinen Schoß. Hab' ich Dir geben wollen heute früh schöne Millich, gute Milach, die beste Milach Hab' ich Dir geben wollen. Hab' ich Dir geben wollen Milach von meine Rachel. Kann ich Dir nicht geben Milach von meine Rachel, hütt'st Du doch müssen verhungern; denn die Rachel hat keine Milach, die Rachel ist gestorben diese Nacht."
Mir war bei diesen Worten, als müsse das Herz mir stille stehen; mein Freund war blaß geworden wie der Kalk an der Wand.
Er trat dicht vor Rvsenzweig hin, und ihn mit den Angen
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durchbohrend, sagte er wie einer, der gefaßt ist, Fürchterliches zu hören:
„Rosenzweig, woran ist Eure Frau gestorben?"
„In der Geburt ist se gestorben, Herr Tokterleben," erwiderte er, mit einem kläglichen Blicke zu dem Fragenden em- porsehend.
„Rosenzweig, wo ist Eure Frau gestorben?"
Rosenzweig nickte ein paarmal, dann erwiderte er:
„Helft nichts, Herr Dokterleben. Was muß werden gesagt, soll werden gesagt: unter dem Dach, wo haben geschlafen der Herr Dokterleben, ist se gestorben."
Niein Freund stieß einen Schrei ans, daß mir angst und bange vor ihm ward. Er sprang ans Rosenzweig zu, erfaßte ihn am Kragen und schrie ihm keuchend ins Gesicht:
„Warum hast Du mich schlafen lassen? Warum hast Du mich nicht geweckt?"
Rosenzweig schaute ruhig mit seinem trostlosen Kopfnicken vor sich hin. Dann sagte er:
„Lassen Se mer los, Herr Dokterleben, die Rachel ist tot, und wenn Se mer thun zerbrechen die Knochen im Leib', Se werden se nich machen lebendig. Werd' ich Ihnen sagen, Herr Dotier, as wie die Rachel immer hat gesagt: Wie wer den wer haben einen Herr Doktcr? Denn wir sind arme Lait und können nich beßahlen den Herrn Dotier. Nn wie haißt? Js gestern, ns wie kommt ihre Stund', gekommen der Herr Dotter! Ich — nn ich lauf zu de Rachel und schrei: Rachel, was 'ne Fraid', is gekommen der Herr Dotter! Wird losehie- ren de Nacht mit noch 'nein Pvrritz, wo is bei ihm unter unserem Dach, hat sich bestellt ßn essen und ßn trinken, und wird er Dir helfeil in Deine Not, und daßn wir werden verdienen ein schönes Stück Geld. Aber die Rachel, die selige Rachel hat gesagt: Isaak, hat se gesagt, wir sind arme Lait und können nich beßahlen den Herrn Dokter. Wird er sich fordern ßnm Honerar alles Geld, was wir werd' verdienen, wenn er wird essen und trinken und schlafen ßnr Nacht mit dem anderen Porritz, wo is bei ihm."
„Und darum, Rosenzweig darum?" schrie mein Freund, in seine Haare greifend.
Rosenzweig sah mit einem Blicke, der rührend um Schonung flehte, zu ihm empor. Dann sagte er leise: „Wir sind arme Lait, Herr Dokterleben."
Mein Freund lies umher wie ein Wilder. Seine Wangen brannten, und seine Fäuste ballten sich.
„Aber, als Ihr sie sterben saht," schrie er, „Mensch Menicki, habt Ihr da keine Angst bekommen? Habt Ihr Euch nicht gesagt — o Gott, o Gott — hier gelegen haben — schlafend wie ein Klotz, und daneben ein Weib, dein man helfeil konnte, helfen mit einem Griff dieses Armes, lind das elendig wegsterben mußte, weil man ihr Schreien nicht hörte. Znm Verrücktwerden ist das!"
Rosenzweig schluchzte heftig, die Thränen rannen ihm über das Gesicht und fielen zu Boden, und da er die Rechnung nicht beschmutzen wollte, so hielt er sie vor sich hin, zwei Fuß von seinem Leibe entfernt, daß es anssah, als ob er sie in harter Selbstanklage dem Himmel entgegenstrecken wollte.
Und dann fuhr er fort: „As is gekommen ihre Stund', Hab' ich gesagt ßn das Veilche und die Esther und die Sara: Snraleben, Hab' ich gesagt, laß kosten, was kost't, werd' ich
Deutschland.