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Deutschland.
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Keller, kein Zufall, daß er als Dichter siebzig Jahre alt geworden ist, ohne sich im Drama versucht zu haben.
Ein behagliches episches Ansspinnen liegt durchaus in Fontanes Naturell und zeigt sich in dem vielgenannten Romane „Irrungen, Wirrungen" (und in der noch ungedruckten Novelle „Stine")* ** von seiner besten Seite. Bei aller Wucht und Schärfe sehen wir den Dichter doch stets schonend und nachsichtig. Er bleibt überall lediglich darstellend und wird nirgends, nach der Manier der Neueren, angreifend oder gar anklägerisch. Lieber setzt er einige humoristische Lichter auf, wie bei dem Onkel des Helden, der ans adliger Beschränktheit ein eifriger Bismarck-Gegner ist. Aber dabei ist Fontane, als warmer Patriot, ein überzeugter Adelsfrennd und selbst von einer entschieden ritterlichen Gesinnung. Dieselbe zeigt sich jedoch nirgends steif, sondern äußert sich eher in einer gewissen Unbefangenheit und Snperioritüt, namentlich allen moralischen Fragen gegenüber. Daß junge, vornehme Leute ihre Verhältnisse haben, und daß die Damen ihres Umganges sich nach unten hin sehr abstnfen, wird mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit behandelt, welche alles Moralisieren von vornherein abschneidet. Es treten eine ganze Anzahl solcher Damen auf, und sie reden, wie sie eben im Leben zu reden pflegen, nicht gerade fein und gewählt, aber auch keineswegs roh und gemütlos. Auch hier bricht noch etwas Provinzielles und Volkstümliches durch den aufgetragenen Firnis hindurch. Der vorurteilslose Leser wird bereitwillig zugestehen müssen, daß Fontane zwar vor keiner Derbheit znrückschreckt, aber auch keine um ihrer selbst willen anssucht — auch hierin sehr zu seinem Vorteil von den Neuesteil unterschieden, welche ihre Unverblümtheiten meist mit albernen Mnndverzerrnngen zu begleiten pflegen, um nur ja zu zeigen, wie sehr sie sich derselben bewußt sind. Fontane dagegen, so sehr er den modernen Realismus mitmacht, ist doch überall mehr als ein Realist, nämlich ein Dichter. Bei allen realistischen Einzelheiten, mit denen seine neueren Erzählungen ansgestattet sind, liegt über dem Ganzen doch etwas, das an den Balladenton erinnert, wie in „Irrungen, Wirrungen" das ahnungsvolle Voranssehen und das wehmütige Ausklingen.
Sv erstaunlich das Wachstum Fontanes gerade in den letzten Jahren ist, er ist durchaus der Alte geblieben. Ohne viel Zugeständnisse und Verrenkungen machen zu müssen, ist er allmählich und sachte in den modernen Realismus hineingewachsen. Das macht: er ist eben als Siebzigjähriger der jüngsten einer!
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L. K-
ist eine alte Erfahrung, die in unserer Zeit täglich von neuem ihre Bestätigung findet, daß ein Werk der Poesie vor allem wegen der Ansichten in den Himmel erhoben oder verdammt wird, die von den dargestellten Personen vertreten sind. So hat z. B. Ibsen als Verfasser der „Wildente" beinahe ebensoviel Sorten von Anhängern und Gegnern, als das Stück Personen hat: die einen identifizieren den Verfasser mit Gregor Werte und sind entzückt, ihre Widersacher thun dasselbe und sind entsetzt, die andern erblicken in l)r. Relling ein getreues Abbild der Jbsenschen Ansichten, und sie spalten sich wieder in Parteigänger und Widersacher dieser Figur und damit des Dichters u. s. w. Ja, noch mehr: man nimmt geradezu eine Figur aus dem Stücke und spielt sie gegen den Dichter aus, aus dessen Phantasie dieselbe entsprungen ist.
* Wir bringen dieselbe ini Laufe des nächsten Quartals. D. Red.
** Rvbert Elsmere. Roman von Mrs. Humphry Ward, Verfasserin von Miß Bretherton. Mit Autorisation der Verfasserin deutsch von Therese Leo. <2 Bände. Berlin, Verjag von I. H. Schorer.)
Dasselbe Schicksal könnte den Roman „Robert Elsmere" von Mrs. Humphry Ward treffen, wenn er, wie zu hoffen ist, die ihm gebührende Beachtung findet. Und zwar aus denselben Gründen, wie in dem angezogenen Beispiel: die dargestellten Charaktere sind lebensvoll wahr, nicht idealisiert und nicht karikiert; mit gleicher Liebe vertieft sich die Verfasserin in das Seelenleben der entgegengesetztesten Persönlichkeiten, so daß jeder sich seinen Mann wühlen kann, mit dem er es hält, wenn auch die Sympathie der Verfasserin augenscheinlich ihrem Helden gilt.
Der Roman giebt uns in epischer Breite das Leben und die geistige Entwickelung eines Mannes, der von vornherein durch sein tief religiöses Gemüt und seinen Sinn für Wissenschaftlichkeit dazu angelegt ist, Glauben und Wissen in sich zu versöhnen und auch für die Welt versöhnen zu wollen. Eine Weile verträgt sich seine Religion mit den Glaubenssätzen der herrschenden Kirche, und zu der Zeit gewinnt er die Liebe eines fast furchtbar streng puritanischen Mädchens, das er als Frau in sein stilles Pfarrdorf heimführt. Dort arbeiten sie beide glücklich zusammen für das Wohl der Gemeinde, bis die Wendung kommt: Robert Elsmere wird irre an dem überlieferten Glauben. Die Bekanntschaft mit dem geistig hochstehenden Squire vollendet seine Umkehr; er legt sein Priesteramt nieder und zieht nach London, wo er unter den Arbeitern des Ostens eine segensreiche Thätigkeit entfaltet. Aber sein stilles häusliches Glück ist dahin: seine Frau ist mit starrer Entschiedenheit ans ihrem alten religiösen Standpunkte stehen geblieben. Dieser ewige Zwiespalt, vereint mit der ungeheuren geistigen und physischen Arbeit, die er leistet, reiben die Kräfte des Mannes ans: bald nachdem er mit glühender Begeisterung unter den Londoner Arbeitern seine neue Religion verkündet und zahlreiche Anhänger gefunden, rafft ihn die Schwindsucht dahin. Aber nicht mit ihm stirbt seine heilige Sache, wenn auch seine Frau, die ihn über alles geliebt, auch nach seinem Tode der anglikanischen Kirche treu bleibt.
Schon hieraus ersieht man, daß dieser Roman weit hin- ansragt über sonstige frauenhafte Bücher, wo am Ende alles in Versöhnung und eitel Wonne hinausläuft, wo überhaupt die Personen insgesamt den Stempel mattherziger Unbestimmtheit tragen. Hier treten sich vielmehr die Charaktere klar und scharf gegenüber: die puritanische Frau, der streng wissenschaft- schaftliche Squire, der fanatische Priester Newcome, der sanfte Landpfarrer Bickerton u. s. w. Trefflich gelungen vor allem sind auch die Figuren des heiteren Weltkindes Rose und des mit der Welt und sich zerfallenen Sklaven seiner Gewohnheiten, des Oxforder Professors Langham.
Worin besteht nun die Religion Robert Elsmeres, oder, wie wir ruhig sagen dürfen, ohne der Verfasserin, deren liebenswürdige Geradheit wir schützen gelernt, zu nahe zu treten, die Religion der Frau Ward?
Das Charakteristische ist entschieden, daß es die Arbeiter sind, von denen aus die Religion zu den höheren Gesellschafts- sphüren sich erheben soll. In den Arbeitern soll die Verehrung des Ideals wieder geweckt werden, und dieses Ideal ist für Robert Elsmere die historische Person Jesu Christi. Es ist nicht zu leugnen, daß damit etwas mit klarer Entschiedenheit ausgesprochen ist, was not thnt: das Andenken desjenigen, der bei weitem den gewaltigsten Einfluß auf die menschliche Kultur ausgeübt hat, zu retteu vor den Verfinsterungen der Orthodoxen und den Schmähungen der Radikalen. Eine ähnliche Auffassung der Religion der Zukunft hat Wilhelm Jordan in seinen Sebalds niedergelegt. Und noch mehr erinnert der Christus von Mrs. Ward an die tief ergreifenden Arbeiterbilder Fritz von Uhdes.
Aber man darf nicht meinen, daß es dem Helden bloß darauf ankommt, Bildung und Sittlichkeit unter den Arbeitern zu verbreiten, sondern seine Verehrung Per Person Christi, auf eiuer wissenschaftlichen Prüfung aller Überlieferungen beruhend, soll thatsächlich eine neue Form der Religion im vollen Sinne des Wortes werden. „Nur sanftes Beharren," sagt Elsmere,