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Deutschland.
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Über epische und dramatische Kunst.
Von
Kuslcrv Lcrnöcruev.
uf die Frage: was ist Kunst? hat ein witziger Kopf geantwortet: Kunst ist, was man nicht kann; denn wenn maws kann, islls keine Kunst. Davon abgesehen versteht man auch jetzt noch infolge des nicht ganz erloschenen etymologischen Bewußtseins unter Kunst das, was man kann: die Kunst des Seiltanzens ist die Fähigkeit des Seiltanzens n. s. w. Das Wort Kunststück ist in diesem Zusammenhang auch zu erwähnen. Dazu gesellt sich dann der Nebeubegriff des Schwierigen, Außerordentlichen, Bedeutungsvollen. Weiter specialisiert sich dann der Begriff, indem unter Kunst nur die Gabe verstanden wird, die besonders begnadeten Individuen, sagen wir kurz: den Genies, den Künstlern zu teil ward; Kunstwerk ist dann, was diese Genies Hervorbringen. Aber diese Produkte üben eine bestimmte Einwirkung auf die Borstellungen und das Gemüt der Konsumenten, des Publikums; und das stellt sich bald als das wesentlichste Merkmal des Kunstwerks heraus: die Anlage und die Dichtigkeit des Künstlers tritt dagegen ganz in den Hintergrund, wie ja auch die Anlehnung des Wortes „Kunst" an „können" mehr und mehr schwindet. So ist nun nicht mehr bloß ein Künstler malerisch veranlagt, sondern eine Gegend etwa ist malerisch: nicht nur der die Dichtwerke hervorbriugt, ist ein Poet, auch einen Stofs, einen Vorgang nennen wir poetisch. Kunstwerk ist nicht mehr das Werk eines in bestimmter Weise veranlagten Menschen, das interessiert uns zunächst gar nicht, sondern es ist ein Gegenstand, gleichgültig welchen Ursprungs, der aus unser Gemüt einen bestimmten Eindruck hervorbringt. Dieser Eindruck, den wir genau von allen andern scheiden, aber sehr schwer in wissenschaftlicher Weise definieren können, ist der ästhetische. Ein Hauptmerkmal dieses ästhetischen Eindrucks ist, daß er uns aufs- heftigste und tiefste berühren kann, ohne doch im mindesten Bezug zu haben auf unser Wohl und Wehe; vielmehr reißt er uns gerade heraus ans dem Egoismus entweder zu einem behaglichen und beschaulichen Jndifferentismus — das ist eine der Wirkungen, die sehr häufig die Musik hervorbriugt — oder aber zum konträren Gegensatz des Egoismus, zur Sympathie im weitesten Sinne, mit einem wenig schönen, aber bezeichnenden Ausdruck auch Altruismus (Heterismus) benannt. Ich muß mich hier auf diese ganz kurzen Andeutungen über die allgemeine Natur des Ästhetischen beschränken, indem ich voraussetze, daß wir alle es so ziemlich richtig im Gefühl haben, was wir darunter verstehen. Nochmals aber sei festgestellt, daß ich, wenn ich von Kunstwerk rede, ganz von der Person und psychischen Beschaffenheit eines schaffenden Künstlers absehe, daß vielmehr für mich alles das Kunstwerk ist, was einen ästhetischen Eindruck hervorbriugt.
Dies festgestellt, schreiten wir in unserer Betrachtung weiter. Jeder Eindruck wird durch die Sinnesorgane vermittelt: niemals kann ich durch bloßes Begehren, Fühlen oder Denken bei mir oder gar einer andern Person einen Eindruck Hervorbringen. Wer das bezweifelt, verwechselt die Vorstellung eines Eindrucks, die Erinnerung au ihn mit dein Eindruck selbst. Also auch das Kunstwerk wirkt zunächst auf die Sinnesorgane. Und das ist ein weiteres, sehr wichtiges Merkmal der ästhetischen Wirkung, daß nicht alle Sinneswerkzeuge in gleicher Weise geeignet sind, einen solchen Eindruck zu empfangen; am wenigsten, besser gesagt, gar nicht der Gefühlssinn, und das ist begreiflich: denn alles, was den Gefühlssinn trifft, berührt eine bestimmte Stelle der eigenen Person, also immer auch den Egoismus. Es folgt in der Skala der Geschmackssinn, der schon viel eher fähig ist, ästhetisch zu empfinden, — das lehrt auch die gerade ins Ästhetische übertragene Bedeutung des Wortes Geschmack, — aber doch noch immer weit genug davon entfernt ist. Dann aber bildet einen großen Fortschritt der Geruchssinn: sehr nahe an der Grenze des ästhetischen Eindrucks steht der, den der ange
nehme Duft einer Blume hervorbringt: er ist schon nicht mehr bloß ein in der Schleimhaut lokalisiertes Gefühl, — solche lokalisierten Gefühle sind natürlich nie frei von egoistischen Regungen, — sondern wir empfinden in der That schon ein indifferentes Allgenreingefühl. Vorzugsweise aber, und wir können doch sagen: so gut wie ausschließlich, sind Leiter des ästhetischen Eindrucks der Gehörsinn und der Gesichtssinn. Was ich sehe, sehe ich nicht im Auge, was ich höre, höre ich nicht im Ohr: es findet keine Lokalisierung des Gefühls statt. Von den so unendlich mannigfachen Empfindlingen dieser beiden Sinne heben sich nun die, die mich nachhaltig und tief berühren, ohne auf mein Wohl und Wehe Bezug zu haben, und die mich aus dem Egoismus in einen längere Zeit andauernden Zustand des Jndifferentismus oder der Sympathie versetzen, heraus als die ästhetischen Eindrücke, die das Kunstwerk hervorbringt.
Die Kunstwerke, die so durch Auge und Ohr ästhetische Wirkungen erzeugen, scheiden sich nun in zwei scharf getrennte Hauptteile, die ich musikalische und plastische Kunst in der weitesten Bedeutung der Worte nenne. Die erstere — ich deute hier nur an — hat es lediglich mit Farben, Formen und Tönen zu thun; Beispiele mögen sein: Abendrot, Ornamentik, Musik. Die plastische Kunst dagegen wirkt durch die den Farben, Formen und Tönen zu Grunde liegenden Gegenstände mit ihren äußern und iuuern Eigenschaften, ihren Bewegungen und Handlungen. Sie scheidet sich wieder in Plastik im engern Sinne, die durch die Gegenstände selbst und ihre Nachbildungen auf uns wirkt, und in die Poesie, die an ihrer Statt einen geordneten Schatz symbolischer Tonzeichen, die Sprache, verwendet.
Die Poesie aber wird nun von andern wieder in Epik und Dramatik eingeteilt: „Ihr großer, wesentlicher Unterschied beruht darin, daß der Epiker die Begebenheit als vollkommen vergangen vortrügt, und der Dramatiker sie als vollkommen gegenwärtig darstellt" zGoethel. Das ist die so sehr selbstverständlich gewordene Erklärung, daß inan sie als unbedingt mit dem Wesen der Sache von vornherein verknüpft nnzuseheu sich gewöhnt hat. Demgegenüber ist aber auf zweierlei hinzuweisen: erstens aus die Antwort Schillers vom 27. Dezember 1797: „Daß der Epiker seine Begebenheit als vollkommen vergangen, der Tragiker ldic beiden Korrespondenten verwenden Tragödie immer gleichbedeutend mit Drama! die seinige als vollkommen gegenwärtig zu behandeln habe, leuchtet mir sehr ein." Es ergiebt sich daraus, daß dieser Standpunkt für Schiller etwas ganz Neues war, au das er noch nie gedacht hatte. Das ist das erste. Zweitens aber ist einfach zu sagen, daß diese Definition unfern Ansprüchen nicht genügen kann.
Stellt man sich wirklich, wie Goethe will, auf den Standpunkt des Künstlers, so gehört für ihn die Handlung im Epos wie im Drama, wenn schon in diesem die Zwischenbemerkungen wie „geht ab" u. s. w. üblicherweise im Präsens gehalten sind, unstreitig der Vergangenheit an. Denn in jedem Momente seines Schaffens steht der Dichter an einem bestimmten Punkte und hat zugleich alles Folgende vor Augen, d. h. er stellt uns eine Entwickelung dar, was dasselbe besagt wie: er erzählt: sein Stoff ist für ihn der Vergangenheit angehörig. — Stellen wir uns jedoch, wie es zwar Goethe nicht thut, auf den Standpunkt dessen, der das Kunstwerk genießt, so ist für diesen Epos wie Drama stets gegenwärtig: denn immer befindet er sich an einem bestimmten Punkte einer Entwickelung, deren Ausgang er nicht absieht; in die Vergangenheit tritt für ihn also die Handlung erst, wenn sie abgeschlossen ist, d. h. er genießt sie als gegenwärtig, wenngleich die Form des Epos die der Erzählung, die Vergangenheit ist.
Wollte man also wirklich — und darauf läuft in der That die Betrachtungsweise Goethes und Schillers hinaus — Epos und Drama als einander sehr nahestehend betrachten und nnr diesen geringfügigen Unterschied aufrecht erhalten, so käme man zu dem Resultate, daß auch er nur ein äußerlicher, kein