Heft 
(1889) 21
Seite
354
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Deutschland.

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zu vielen neuen Maßnahmen wurden. Im Januar 1880 wurde Peter Alexandrowitsch Präsident des Ministerkomitees und der Bittschriftenkommission, und als sein dankbarer Kaiser am 2. März d. I. sein fünfundzwanzigjähriges Regiernngsjubilüum feierte, erhob er die Säule seines Thrones in den erblichen Grafen­stand; bald darauf rafften die Nihilisten den bestell, aber ener­gieloseil Monarchen hin. Alexander III. war schon als Groß­fürst Walnjews Gegner gewesen; als Walnjew im April 1881 sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum feierte, zeichnete er ihn je­doch in hervorragender Weise aus und dankte ihm durch ein Reskript für die ihm und seinem Vater geleisteten Dienste. Als aber der Herbst ins Land kam, wurde der Gras betrügerischer Handlungeil, des Unterschleifs n. dgl. beschuldigt und unter dem durchsichtigeil Vorwände zerrütteter Gesundheit im Oktober 1881 der Ämter als Präsident des Ministerkomitees, der Bitt- schriftenkommission und des Komitees für die kaukasischen An­gelegenheiten enthoben. Die Untersuchung rechtfertigte den Ehrenmann in glänzender Weise, Älexander III. sprach ihm zu Anfang des Jahres 1882 seine warme Anerkennung in einer Ändienz aus, Walnjew trug bei der Krönung des Kaisers am 27. Mai 1883 den Reichsapfel und empfing den höchsten Orden, den des heiligen Andreas, in Brillanten. Der Graf war fast ohne Vermögen, besuchte nur selten die Sitzungen des Reichsrates und lebte sehr zurückgezogen in seinem bescheidenen Hause am Woßnessenski-Prospekte; er war nicht mehr voll der kaiserlichen Huld begnadet, denn er galt für liberal, für einen Anhänger der ans dem Westen importierten Kultur, also nicht für national; er sah unter dem neuen Regimente Stein um Steill von dem zerbröckeln, was er unter dem vorigen müh­sam zu einem Ehreudenkmale fiir seineil vergötterten Monarchen aufgebaut hatte. Da flüchtete er sich denn in die unpolitischen und internationalen Gebiete der Litteratnr. Im Frühling 1882 erschien bei Roettger in St. Petersburg (deutsch bei Brock­halls in Leipzig) sein rasche Verbreitung findender Roman in drei BändenLorin," den man Disraelis wegen denrussischen Endymion" getauft hat; in ihm sprach sich Walnjew als großer Verehrer der Petrinischen Reformen gegenüber der natio­nalen Reaktion ans und schilderte edel- lind freidenkende Men­schen im Gegensätze zu den landläufigen Pessimisten und Nihi­listen, Gestalten wie Lorin, die Gräfin Jskritzky, die Fürstin Belsky, die Familie Ssobolin leben und weben, sind nicht müßige Phantasiegebilde halb oder ganz verrückten Hirns. Außerdem gab Walnjew heraus eineSammlung kurzer from­mer Sprüche für alle Tage des Jahrs," und ließ anonym im JournaleEcho" eine religiöse Erzählung erscheinen; auch arbeitete er an Erinnerungen aus seinem erlebnisreichen Dasein. Längereil schweren Leiden erlag er in der Nacht zum 10. Fe­bruar 1890 ill St. Petersburg; er hatte verboten, daß seinem Sarge die Orden vorgetragen und irgend ein Pomp entfaltet würde, und demgemäß fand die Beisetzung auf dem Friedhofe des St. Alexander Newski-Klosters in ganz bescheidenem Stile statt, die zahllosen Kränze freilich konnte kein Wille über das Grab hinaus den dankbaren Armen, den trauernden Freunden wehren.

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(^!^as Bedürfnis nach einer durchgreifenden Reform unserer deutschen Theaterverhältnisse ist nicht erst von heute. Wir haben eine umfangreiche Litteratnr iiber diese Frage, und schon viele haben sich an der praktischen Lösung derselben versucht, sich daran die Zähne ausgebissen. Das Gemeinsame aller dieser früheren Neformversuche ist, daß sie von der Grund­lage des herkömmlichenstehenden Theaters" ausgingen.

Friedrich Schön in Worms ist nun von der Ansicht ans­

gegangen, daß die Schaubühne ihre Aufgabe, eine Bildnngs- anstalt, die vornehmste Bildnngsanstalt für das Volk zu sein, nicht erfüllen kann, solange sie durch die Höhe der Eintritts­preise deni Volk unzugänglich ist. Und da diese in immer­währendem Steigen ' begriffen sind, droht die Gefahr immer mehr, daß der Theaterbesuch ein Privileg der Besitzenden wird. Ferner ist es, wenn die Bühne ihrer Aufgabe gerecht werden soll, nötig, daß sie sich von der Herrschaft des Tagesgeschmackes, der Mode emancipiert und nur Gutes darbietet, daß sie den verrohten und versimpelten Geschmack der Menge wieder für eine wahre Kunst tüchtig macht, das Volk wieder zur Kunst erzieht, zur Kunst, die denn doch wahrhaftig zu edel ist, um dem bloßen Unterhaltnngsbedürfnis, dem reinen Vergnügen der Sinne zu dienen.

Durch fortgesetzte Darbietung von Gutem unter völli­gem Ausschluß der geistlosen, blödsinnigen Plattheiten in der Posse, sowie der lüsternen Gemeinheit in der Operette - bei so billigen Preisen, daß man auf ein stets gefülltes Hans rechnen kann, ließe sich diese Geschmackserziehnng wohl mit der Zeit durchführen.

Uni aber die Preise der Plätze auf ein Minimum redu­zieren zu können, müßte man auch eine entsprechende Vermin­derung der Betriebskosten anstreben, wodurch man gleichzeitig der Notwendigkeit allzu häufiger Aufführungen enthoben werden könnte, bekanntlich eines der Hauptgebrccheu unserer meisten Bühnen. - Zur Erreichung dieses Zieles bieten sich zwei Mittel dar: Man kann die Zahl der anznstellenden Schau­spieler verringern und für untergeordnetere Rollen Dilettanten heranziehen. Sodann läßt sich der Gebrauch von Dekoratiou wesentlich einschräukeu. Auf diese Weise ließe sich eine nennens­werte Verbilligung der Plätze erreichen. Es erhebt sich jedoch die Frage, ob mit diesen Mitteln der Sache selbst gedient ist, ob sie nicht vielleicht darunter Schaden leidet. Denn selbst­verständlich darf der materielle Gesichtspunkt nicht der aus­schlaggebende sein.

Man kann die Zahl der anzustellenden Schauspieler ver­ringern; ja noch mehr, man kann überhaupt darauf verzichten, eine eigene Schauspielgesellfchaft zu halten, die doch in den seltensten Füllen allen Anforderungen genügen kann. Viel geringer werden die Kosten sein, wenn man mit einer benach barten größeren Bühne einen Spielvertrag abschließt, oder wenn mehrere Bühnen sich zu gemeinsamer Wirksamkeit vereinigen. Ein großes Gezeter hat man iiber die Mitwirkung von Di­lettanten erhoben.Man gehe nicht ins Theater, um sich von Stümpern langweilen zu lassen!" Mit derStümperei" ist es gar nicht so schlimm. Was dem Dilettanten gegenüber dem Berufsschauspieler abgeht, ist die Routine, voraus hat er aber vor jenem ein gesundes und natürliches Gefühl, so daß er, um mit Lessing zu reden, sich nur einige Stunden in den Gedanken einzuleben braucht, er sei, was er darstelle. Weuu er dann frisch von der Leber redet, dann wird seine Darstellung sicher gut sein. Ich muß sagen, ein solcher Dilettant ist mir lieber als ein Berufsschauspieler mit seiuer veralteten Scha­blone oder seinen Virtuosenmützchen. Es sind eben leider nicht alle Schauspieler Genies, so viele es auch selbst von sich glauben mögen.

Aber werden die Leute nicht durch ihre Verwendung bei der Bühne zerstreut, fiir ihre Bernfsthätigkeit untauglich gemacht? Schwerlich in höherem Maße als durch den Gebrauch, den sie ohnedies von ihrer freien Zeit machen.

Ich will gar nicht einmal von den in qualmigen Bier­stuben mit Klatsch und Kannegießern totgeschlagenen Stunden reden: Wie viele sind in größeren Städten namentlich als Sta­tisten, vielleicht gar im Opernchore thätig, unbeschadet ihres Berufes! Wieviel Zeit wird auf Gesangvereine jeder Art ver wendet, deren künstlerischer Wert doch in den meisten Füllen ein recht minimaler ist! Und wieviel Zeit wird selbst mit Theaterspielen, mit den sogenanntenLiebhaber-Vorstellungen" vertrödelt! Man schaue doch nur einmal in ein großstädtisches Lokalblatt. Vergeht denn im Winter ein Tag oder wenigstens