Heft 
(1889) 22
Seite
370
Einzelbild herunterladen

Seite 370.

muß und freudelos dahinlebt. Ist die Ausnützung der Arbeits­kraft der Kinder und jugendlichen Leute in der Hausindustrie eine gesundheitswidrige, so muß das Gleiche von der Aus­nützung der Arbeitskraft erwachsener Arbeiter gesagt werden; nicht zehn und elf Stunden arbeitet der hnnsindustrielle Ar­beiter in zahlreichen Industriezweigen, sondern dreizehn und vierzehn, fünfzehn und gar sechzehn Stunden; die Filetstrickerin in den Taunnsdörfern sitzt von morgens sechs bis abends zehn Uhr an der Arbeit, stets den Faden schlingend und die Arbeit nur in den kurzen, für die Ernährung bestimmten Pausen unter­brechend. Wir sehen davon ab, über die jämmerlichen Lohn- Verhältnisse einige Angaben mitzuteilen, und wollen lieber ans die Beschaffenheit der Werkstätten und Wohnungen der haus- industriellen Arbeiter einen Blick Wersen. Bezüglich beider wer­den die wichtigsten Anforderungen der Gesundheit und Sitt­lichkeit in zahlreichen Füllen in der schwersten Weise verletzt; bei den Spielwarenarbeitern im Sonnebergscheu Bezirke, deren Verhältnisse mit die schlimmsten im ganzen Reiche sind, besteht die Wohnung ans Stube und Kammer, von denen die erstere als Wohn- und Arbeitsstube zu gleicher Zeit dient; dieselbe muß, auch im Sommer, ununterbrochen geheizt werden, damit die Ware rasch trocknet; am Ofen befindet sich eine Vorrich­tung, um heißes Wasser zu halten. Der aufsteigende Wasser­dampf schlügt sich nun in die kältere Schlafkammer und ver­mehrt dort die natürliche 'Feuchtigkeit; in diesem Räume schläft nun die ganze, nicht selten recht zahlreiche Familie. Ähnliche Zustände werden auch in anderen Gegenden vielfach angetroffen, und mit Recht sagt ein neuerer Schriftsteller von den Woh­nungsverhältnissen: es sei ein wahres Pandümonium, in das man schaudernd einen Einblick thue. Gewiß müssen solche Zu­stände dem Staat und der Gesellschaft eine Veranlassung ge­ben, ihre volle Macht, ihre ganze Kraft zu entfalten, um eine Besserung in den geradezu menschenunwürdigen Verhältnissen anzubahnen. Wollte die Gesetzgebung, wie es bisher geschehen ist, die Arbeiterschntzfrage nur mit Rücksicht ans die Fabrik­arbeiter behandeln, so würde dies mit Notwendigkeit dahin führen, daß die Zahl der hausindustriellen Arbeiter sich ver­mehrte und damit noch eine weitere Verschlimmerung und Ver­schlechterung der Verhältnisse derselben eintrüte; die Erfah­rungen, welche man in England in dieser Beziehung gemacht, sind auch für Deutschland sehr lehrreich; solange die englische Gesetzgebung nur für den Schutz der Fabrikarbeiter sorgte, wurde eine stetige Verminderung der Zahl dieser lind eine ent­sprechende Vermehrung der hausindustriellen Arbeiter beobachtet. Man suchte sich seitens der Fabrikanten den strengen Bestim­mungen des Gesetzes dadurch zu entziehen, daß man die Waren in größerem Umfange in der Hausindustrie anfertigen ließ, und dies war für die Negierung ein Grund, den Arbeiterschntz auch auf die hausiudustriellen Arbeiter auszudehnen. Wir ver­kennen gewiß nicht, daß die Schwierigkeiten, welche dem Erlaß eines Schutzgesetzes für die Arbeiter der Hausindustrie ent­gegenstehen, groß, sehr groß sind, aber unüberwindlich sind sie nicht, und die deutsche Gesetzgebung hat ihre Fähigkeit, schwere sozialpolitische Fragen in zweckmäßiger Weise zu behandeln, schon zur Genüge bewiesen. Der Arbeiterschutz, dessen Erlveite­rung wir entgegengehen, darf nicht ans die Fabrikarbeiter be­schränkt bleiben, er muß auch den in der Hausindustrie be­schäftigten Personen zu teil werden, wollen wir es verhüten, daß neben dem vierten Stand noch ein fünfter ersteht, wollen wir einer körperlichen und geistigen Entartung breiter Volks­schichten Vorbeugen. Auch die Hausindustrie muß spüreu, daß eine neue Zeit angebrochen ist, auch die in ihr thütigen Ar­beiter müssen erfahren, daß die Zeit gekommen ist, in welcher der Staat es für seine Aufgabe erkennt, weitgehende Bestim­mungen zu ihrem Schutze zu erlassen, die Fürsorge der öffent­lichen Gewalt soll auch ihnen nicht entgehen, und darum mei­nen wir, daß die Gesetzgebung des Deutschen Reiches sich bei ihrer demnächstigen Thätigkeit in der Arbeiterschutzsrage auch mit den hallsindustriellen Arbeitern zu befassen haben wird.

22 .

Einige Bemerkungen zur Hygiene in den Gasthäusern.

Von

0r. Gregor Reymer.

((A^ie Thatsache, daß eine große Zahl von Krankheiten durch mittelbare oder unmittelbare Übertragung oder durch Ver- Mittelung der Luft, des Wassers und Bodens sich ver­breitet, ist eine längst bekannte. Bereits in den Arbeiten der ältesten Schriftsteller finden sich Andeutungen und Beschrei­bungen, welche keinen Zweifel darüber lassen, daß man über den epidemischen Charakter vieler Erkrankungen sehr wohl unter­richtet war und auch die Austeckungsfähigkeit einzelner Krank­heiten, die nicht epidemisch nuftreten, sehr wohl zu würdigen wußte. Die weitere Entwickelung der Lehre von den Infek­tionskrankheiten läßt sich historisch genau verfolgen. Nicht

allein die Pest, Cholera, Pocken wurden bereits frühzeitig als ansteckend erkannt, sondern auch im vorigen Jahrhundert schon die Schwindsucht als infektiöse Erkrankung angesehen. 1782 erließ der König von Neapel ein Edikt, wonach die Phthisiker als solche, welche eine ansteckende Krankheit haben, ans der Gesellschaft entfernt und in besondere Hospitäler gebracht wer­den sollten; außerdem mußten die Ärzte jeden derartigen Krank­heitsfall zur Anzeige bringen. Die Forschungen über die Tu­berkulose, welche vom Beginn dieses Jahrhunderts an ganz besonders Gegenstand eifriger Untersuchungen wurde, spiegeln die in den betreffenden Zeitabschnitten herrschenden Ansichten und Thevrieen in der Heilkunde getreu wieder. Man gelaugte zur Erkenntnis, daß als Ursache dieser mörderischen Krankheit ein bestimmter Krankheitserreger gelten müsse: aber erst durch die neuen, geistreichen Untersnchnngsverfahren von Robert Koch war es unserer Zeit Vorbehalten, vollkommene Klarheit und Genauigkeit über die Natur dieses Krankheitserregers zu gewinnen. Gerade die Tuberkulose ist es, welcher von seiten der Ärzte, Hygieniker und Behörden das größte Interesse cut- gegengebracht werden muß, da sie alljährlich Zahlen erreicht, wie überhaupt keine andere Erkrankung. Ein Beispiel möge hier genügen: Im Jahre 1888 starben in Berlin insgesamt 29294 Personen. Von diesen gingen an Lungenschwindsucht 4175, d. h. fast der siebente Teil aller Gestorbenen, zu Grunde. Ans anderen Ortschaften lauten die betreffenden Zahlen ziem­lich entsprechend.

Jene Entdeckung Kochs, daß ein ganz bestimmter Krank­heitserreger, der Tuberkelbacillus, und nur dieser, die Tuber­kulose erzeuge, war für die gesamte Heilkunde von entschei­dender Bedeutung, da es sich bei dieser Entdeckung nicht etwa um die Aufstellung einer neuen Theorie handelte, deren Rich­tigkeit erfolgreich anznfechten möglich gewesen wäre, sondern um das Endergebnis emsiger Arbeiten, welche sich in ruhiger Folge innerhalb von Jahrzehnten entwickelt hatten, und welches mit mathematischer Sicherheit den Beweis führte, daß der ge­nannte Pilz als die Ursache der Tuberkulose anzusehen ist. Den Untersuchungen Kochs folgte bald eine sehr große Anzahl von Arbeiten, welche die Erforschung der Entstehung anderer Krank­heiten nach den neu gegebenen Gesichtspunkten zum Gegen­stände hatten, und es wurden nicht nur die Erreger vieler an­steckender Krankheiten gefunden allerdings ohne vorläufig auf jene absolute Richtigkeit Anspruch machen zu können, wie die von Koch als Ursachen des Milzbrands und der Schwind­sucht entdeckten Pilze sondern es wurde auch für manche Affektionen, welche man bisher zum Teil alsErkältungskrank­heiten" nnfgefaßt hatte, wie z. B. die Lungenentzündung, eben­falls der Nachweis geführt, daß sie durch Pilze bedingt seien. Wem: sich auch bis jetzt die Hoffnung noch nicht erfüllt hat, daß es infolge der neuen Entdeckungen sogleich gelingen würde, durch das bessere Verständnis der Ursachen vieler Erkrankungen auch specifische Mittel gegen dieselben zn finden, so war doch auch der skeptische Standpunkt, welchen einzelne gegen dieselben

Deutschland.