Heft 
(1889) 22
Seite
371
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Deutschland.

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einnehmen zu müssen glaubten, welche vergeblich auf die Ein­führung neuer specifischer Behandlungsarten gewartet hatten, ein irrtümlicher.. Der Vorteil aber/welchen die Menschheit und die medizinische Wissenschaft von jenen Arbeiten gehabt hat, ist bereits jetzt ein gelvaltiger, da das allgemeine Behand­lungsverfahren sich ganz wesentlich nach den jetzt geltenden Grundsätzen der Entstehung vieler Krankheiten geändert hat, und ferner, und das ist wohl als das Hauptergebnis der jahre­langen, mühevollen Versuche der Vorgänger Kochs, dieses selbst und seiner Schüler anznsehen, es als gleichwertige oder sogar vornehmste Aufgabe der modernen Heilkunde gilt, nicht allein erkrankte Menschen zu heilen, als besonders die Krankheiten oder deren Entstehung zn verhüten. So ist denn heute die Prophylaxe der Erkrankungen in den Vordergrund des ärzt­lichen Interesses getreten und unsere gesamte Gesundheits­pflege in neue Bahnen gelenkt worden. Die alljährlich tagen­den internationalen hygienischen lind medizinischen Kongresse und Versammlungen geben ein beredtes Zeugnis von der rast­losen Thätigkeit, welche auf diesem Gebiete jetzt in allen Län­dern entfaltet lvird. Auch in Deutschland haben sich in den letzten Jahren in hervorragendem Maße die Ärzte und die zu­ständigen Behörden mit den Frageil der Hygiene beschäftigt und die letzteren eine erhebliche Anzahl von Gesetzen und Ver­ordnungen erlassen, welche bestimmte Vorschriften in dieser Be­ziehung enthalten. Zur Bekämpfung ansteckender und gemein­gefährlicher Krankheiten sind besondere Maßregeln getroffen, welche sich zum Teil in den, jetzt nach den neuesten Anforde­rungen ergänzten lind erweiterteil, sanitütspolizeilichen Vor­schriften für Preußen (demRegulativ" vom Jahre 1835) er­wähnt finden, zum Teil durch besondere Gesetze abgegrenzt sind.

Während die bakteriologischen Forschungen einen gewal­tigen Umschwung iil der Ausübung der Gesundheitspflege her- beiführteu, habeil zum nicht geringen Teil auch die Fortschritte der Chemie in den letzten Jahreil eine größere Sicherheit in der Handhabung vieler gesundheitlicher Gesetze ermöglicht. In dieser letzteren Hinsicht ist besonders das Reichsgesetz, betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Geuußmitteln und Ge- brauchsgegenstäuden vom Jahre 1870 zu nennen, welches ge­naue Bestimmungen über die Anfertigung, das Feilhalten, die Aufbewahrung aller zur Nahrung, zum Genuß und zu den täglichen Bedürfnissen dienenden Gegenstände, sowie über die Strafen für Verstöße gegen dieselben enthält. Dieses Gesetz hat außerordentlich segensreiche Wirkungen geübt und vielen bestehenden Mängeln abgeholfen. Trotzdem bleibt aber in dieser Beziehung noch vieles zu verbessern übrig, wogegen bis jetzt gesetzliche Vorschriften nicht erlassen sind, vielleicht auch nicht erlassen werden können. Während durch das Gesetzfür das Reich durch kaiserliche Verordnung mit Zustimmung des Bnn- desrats zum Schutze der Gesundheit Vorschriften erlassen wer­den können, welche das gewerbsmäßige Verkaufen und Feilhal­ten von Nahrnngs- und Geuußmitteln von einer bestimmten Beschaffenheit oder unter einer der wirklichen Beschaffenheit nicht entsprechenden Bezeichnung verbieten," sind gar keine Ver­ordnungen in Bezug auf den hygienischen Zustand des Ortes oder Platzes, an dem unter Umstünden dieses Verkaufen von Nahrungsmitteln geschieht, vorhanden. Ich möchte in den fol­genden Zeilen von der Hygiene eines Platzes, an welchem Genußmittel meist oder stets bei Gegeuwart einer größeren Anzahl von Menschen verlaust werden, sprechen, nämlich der Gasthäuser und Gastwirtschaften, deren Hygiene bisher über­haupt sehr stiefmütterlich behandelt ist, obwohl sie, wie wir sehen werden, von großer Bedeutung ist. Werden in einem Gasthause verdorbene oder verfälschte Nahrungsmittel an das dort verkehrende Publikum abgegeben, so kann dafür der Be­sitzer oder Inhaber der betreffenden Anstalt, beziehungsweise ' diejenige Persönlichkeit, welcher die Versorgung der Gäste an­vertraut ist, zur Verantwortung gezogen werden. Einzelne derartige Vorgänge in den letzten Jahren sind noch in frischer Erinnerung. Vom hygienischen Standpunkte sind aber an die Gastwirtschaften bei weitem höhere Ansprüche zu stellen, als

es die eigentlich selbstverständliche Verabfolgung guter und frischer- und Trinkwaren ist. In den Gasthäusern finden sich gewöhnlich zahlreiche Menschen oft für viele Stunden zu­sammen; während für viele Betriebe, wo große Menschenan­sammlungen sich finden, jetzt vorzügliche hygienische Einrich­tungen gesetzlich vorgesehen sind, werden solche für Gasthäuser vollkommen vermißt. Man muß zugebeu, daß für den Auf­enthalt der Arbeiter in Werkstätten, Arbeitsstilen und dergleichen gesetzliche hygienische Vorschriften nötig sind, damit nicht die Arbeiter bei der Erwerbung ihres täglichen Lebensunterhaltes Schädigungen ihrer Gesundheit ansgesetzt werden, daß dagegen der Aufenthalt in einem Gasthause ein mehr freiwilliger, für die Erholung und sogar das Vergnügen bestimmter ist. Hier­auf ist zu entgegnen, daß für sehr viele Personen, z. B. Rei­sende, der Verkehr in Gastwirtschaften eine Notwendigkeit ist, daß bei dein sich immer mehr, besonders in Großstädten, ans­dehnenden Verkehr in den Gasthäusern die hygienischen Ver­hältnisse in denselben gewiß volle Beachtung verdienen, und daß endlich für die Theater, wo ebenfalls ein Teil der dort verkehrenden Menschen, die Zuschauer, vollkommen freiwillig und (mit Ausnahme der armen geplagten Kritiker und Theater- ärzte) des Vergnügens wegen sich einfindet, sehr genaue gesetz­liche Vorschriften für hygienische und sichere bauliche Anlage der Räume vorhanden sind.

Betrachten wir einmal die letzteren Verhältnisse und all­gemeinen Einrichtungen unserer Gasthäuser genauer, so ist nicht in Abrede zu stellen, daß die meisten nenerbantenBierpaläste" von außen und viele auch von nmen für das Auge gar lieb­lich anzuschauen sind; ein hundertstimmiges Summen nmrauscht beim Eintritt das Ohr, angenehme Wvhlgerüche (wenn man nicht in allzugrvße Nähe der Küche kommt) steigen in die em­pfangsbegierige Nase auf. Soweit wäre alles ganz gut; aber mit der vorrückeudeu Zeit nimmt die Zahl der Gäste zu, das Summen steigert sich bisweilen zu einem für nervöse Indivi­duen besonders angenehmen Getöse. Mit der weiteren An- fülluug des Lokals tritt dann aber ein llbelstand hervor, wel­cher bedenklicher Natur ist und welcher nicht allein die neu­erbauten Bierhäuser, sondern: in noch höherem Maße die alten, niedrigen Bierlokale betrifft. Die Luft, welche bereits durch die beträchtliche Anhäufung von Menschen allein eine fast un­einatembare war, was besonders auffällig ist, wenn man nach Theaterschluß ein beliebtes und daher gut besuchtes Gasthaus betritt wird dadurch, daß ein großer Teil der Anwesenden sich in undurchdringliche Dampfwolken einhüllt, eine geradezu unerträgliche. Die etwa vorhandenen Veutilatiouseiurichtuu- gen nicht alle unsere Erfrischungsaustalten sind mit der­gleichen von vielen als ganz überflüssig angesehenen Dingen ansgestattet reichen nicht im entferntesten aus, den Abzug der qualm- und dunsterfüllten Luft und das Zuströmen frischer Luft in genügender Weise zu gestatten. Ein Raum, in welchem bequem sich hundert Menschen niederlassen können, wird durch Aneiuanderrücken der Tische und Stühle an Tagen, an denen dasGeschäft gut geht," mit hundertfünfzig und mehr Men­schen besetzt. Allerdings halten sich nicht alle Gäste viele Stun­den lang in einem Gasthause auf; aber selbst das durchschnitt­liche Verweilen von einer bis zwei Stunden an einem so mit Menschen und schlechter Lust erfüllten, meist noch überheißen Raume ist sicherlich geeignet, Krankheiten sowohl zu erwerben als auch zu verbreiten. Wenngleich natürlich letzteres nicht für den Einzelfall erweisbar, ist doch die Wahrscheinlichkeit dafür gar nicht von der Hand zu weisen, besonders wenn noch die Weller unten zu neuneudeu Schädlichkeiten in einer solchen Erholnngs"anstalt vorhanden sind. Alle diese tadelnswerten Verhältnisse sind in einem noch weit höheren Maße in deu unterirdisch gelegenen Bierstuben vorhanden, aus deren geöffne­ten Thüren und Fenstern manchmal auch am Tage eiu so eigentümliches Gemisch von Gerüchen von Bierresten und an­deren duftenden Gegenständen aufsteigt, daß dem Besucher beim Betreten dieser Biertempel dieLuft auf die Brust füllt" und in der ersten Zeit des Aufenthalts vollkommen die Atmung