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Deutschland.
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mit ihren weißen, kültesteifen Fingern an einer wollenen Jacke für ihren Mann, — es war ein Weihnachtsgeschenk, das nicht ganz fertig geworden. Alle Augenblicke legte sie die Nadeln hin, hauchte in die Hände, rieb sie zusammen und horchte, ob ihr Mann oder ihre Tochter nicht zurückkehre. Jda war gekommen, kurz nachdem der Mann das Haus verlassen hatte. „Gott, Deern, büst Du endlich dar?" hatte Frau Wobbe erleichtert gerufen und Jdas Strümpfe befühlen wollen, ob sie auch nicht naß seien. Aber das war ein Mädchen! Es hatte gestrampelt und gelacht und gerufen: „Ganz knochentrocken! Wo is Papa? Jn'n Schuppen? Na, denn gieb mir man m neues Haarband, mein is wieder weg, denn will ich ihm 'n büschen entgegengehn!" Und ohne ans die kläglichen Reden der Mutter zu achten, hatte der Wildfang, der dem Vater glich, wie eine junge Kartoffel einer alten, seine dicken, blonden Zöpfe neu zngebunden, sich ein Butterbrot ausgeschmiert und war wieder aus der Thür gewitscht, in den häßlicher!, naßkalten Winterabend hinaus, der aber, wie es schien, seinen roten Backen und lustigen Angen nicht das geringste anhaben konnte. War das ein Umeinanderlanfen von den beiden! (Zchlnsi fvigt.)
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Von
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oethe und Schiller hatten bereits den Gipfel ihres geistigen Schaffens erstiegen, die Tiefe und der Ernst des Denkens war zugleich mit dein Idealismus unserer Dichtung eingekehrt, so zwar, daß die Philosophie durch Kant ans eine die ganze Zeit überragende Höhe geführt ward — - und trotz alledem hatte Frankreich unseres Geistes kaum einen Hauch verspürt, das Fremde nur insoweit ehrend, als es Wasser ans die revolutionäre Mühle zu treiben schien. Und als die großen französischen Heere Deutschland überfluteten, dachten sie nur daran, zu erobern und zu raffen; um wissenschaftliche Erkenntnis unserer Sprache und Litteratur kümmerten sich selbst die Emigranten nicht, und eine glänzende Ausnahme machte Charles de Villers, nach Goethe ein „daium lükrorw, der das litterarische Leben seiner Landsleute und der Deutschen überschaute." Frau v. Staöl wurde von ihm erst angeregt, und wenn auch ihr Buch: de llNUsinaAne die deutsche Litteratur in Frankreich neben der Einbürgerung manches schiefen Urteils ziemlich wirksam eingeführt, so ist doch Villers der weitaus gründlichere Kenner Deutschlands, in dessen Gedankenwelt er heimisch gewesen, dessen Sprache er beherrschte, an dessen Schicksalen er zur Zeit der größten Erniedrigung warmen Anteil genommen, so daß ihm 1809 die seltene Auszeichnung des Ehrenbürgerrechts der freien Hansestadt Bremen zu teil geworden ist. Das Dokument besagt wörtlich, die Ehre werde ihm zuerkannt „in Rücksicht der ausgezeichneten Verdienste des Herrn Carl v. Villers um die deutsche Litteratur, in freimütiger Bekämpfung vieler Vorurteile des Auslandes gegen die Eigentümlichkeiten der deutschen Nation: besonders aber wegen der von demselben durch wiederholte, aus eigenem Antrieb übernommene Bemühungen bewiesenen Anhänglichkeit an dem (sie) Wohl der freien Hansestädte überhaupt, als auch unserer Stadt insbesondere."
Earl v. Villers, geboren am 4. November 1765 zu Bötchen in Lothringen, 1783 Artillerie-Offizier in Metz, dann in Straßbnrg mit klassischen Studien beschäftigt, im Mürz 1792 znm Artillerie-Hanptmann ernannt, durch das Aufsehen, das
seine Schrift: da 1a lidertö machte, zur Auswanderung gezwungen, kämpfte tapfer im Heer der Emigranten, kehrte nach dem unglücklichen Ausgang des Feldzuges nach Metz zurück, um jedoch bald wieder zu fliehen und zum zweitenmal die deutsche Grenze zu überschreiten. 1796 finden wir ihn in Göttingen, wo er mit Kästner, Hehne, Eichhorn, Schlözer in enge Verbindung trat. Ans dein Wege nach Rußland, wo sein jüngerer Bruder bereits Unterschlupf gefunden hatte, kam er durch Lübeck, und diese Stadt mit ihrem lebhaften Handel, ihrem blühenden Gewerbe, ihrer geistigen Regsamkeit fesselte ihn so sehr, daß er sich dauernd in derselben niederließ. Hier, im Kreise edler Freunde, im engen Herzensbündnis mit seiner- gefeierten Freundin, der „vielbelobten und beliebten Frane" Dorothea Nodde-Schlözer, deren profunde Gelehrsamkeit über Deutschland hinaus Staunen erregte, erforschte er mit wissenschaftlichem Ernst das innerste Seelenleben Deutschlands, trat mit einer Reihe der hervorragendsten Vertreter der Litteratur in nahen Verkehr — wir nennen nur Namen wie Jakobi, Görres, Stol- berg, Voß, Ink. Grimm, Goethe u. a. — und erfaßte so täglich lebhafter die hohe Bedeutung unseres Vaterlandes in religiöser, wissenschaftlicher und litterarischer Hinsicht. Eifrig studierte er die Knutsche Philosophie, die er dann in französischer Sprache 1801 seinen Landsleuten nach ihren Grnnd- zügen und mit besonderer Berücksichtigung der Kritik der reinen Vernunft vorführte, ein Werk, zu dem selbst der größte Widerpart alles Ideellen, Bonaparte, sich hingezogen fühlte, und welches ihm den Auftrag verschaffte, in gedrängtester Form einen Abriß der Knutschen Lehre für den Konsul (in nsnin Ecmmdm) einzuliefern. Freilich, manche feindselige Stimme erhob sich bei unfern westlichen Nachbarn gegen diese Schild- erhebnng Kants, und ein gallischer Hahn stimmte folgendes unglaubliche Krähen an: In einer Zeit, in welcher eine neue Philosophie, würdig des zehnten Jahrhunderts, mit ihrer Finsternis den Norden Deutschlands bedecke, und welche ihre begeisterten Anhänger für den Kodex jener Weltvernunst ansgeben, die als Grundlage für alle unsere Kenntnisse dienen, habe man den Franzosen Interesse an einem in barbarischem Kauderwelsch geschriebenen Buche zugemutet, dessen Aufschrift schon (Kritik der reinen Vernunft) ein Unsinn, und dessen Inhalt der unverständlichste Gallimathias sei, welcher je ans einem menschlichen Kopfe heransgekommen ist.
Schon vorher (1798) hatte Villers recht eindringliche Mahnungen an seine in Deutschland zerstreuten Landsleute gerichtet, sich nicht gleichgültig abznwenden von den litterarischen Schützen der arbeitsamen und bescheidenen Nation, welche sie gastlich in ihrem Schoße ausgenommen, vielmehr die Sprache der deutschen Schriftsteller, in deren Mitte sie sich befänden, zu erlernen, ihren Geist zu ergründen, zu unterscheiden, was dieselben Gutes haben und was der französischen Litteratur fehle. Vereinsamt inmitten Europas infolge einer schönen, aber harten Sprache, welche von den andern Völkern verschmäht werde, mache sich das hochgebildete und fast mit allen Schriften der anderen Nationen bereicherte Deutschland, welches seinen Nachbarn fast so fremd sei wie China oder Indien, zu seinem eigenen Mittel- und Zielpunkte. Die deutsche Litteratur befinde sich gerade jetzt in ihrem goldenen Zeitalter : an den Emigranten sei es, die Schranken zu brechen und Geistesbrücken nufznbauen zwischen zwei Völkern, deren geistige Verständigung zwar schwer, doch nicht unmöglich sei.
Mochten auch die Emigranten sich gegen solche Worte die Ohren verstopfen, er selber hörte in seiner Würdigung des deutschen Geistes nimmer ans. Immer mehr fühlte er sich berufen, den geistigen Verkehr zwischen Deutschland und Frankreich zu vermitteln. Großes Aufsehen erregte seine (1803) vom französischen Institut gekrönte Preisschrift über die Folgen der Reformation für die politische Lage der verschiedenen Staaten Europas und für den Fortschritt der Aufklärung. Auf einer Reise nach Frankreich, die er mit der Familie Rodde für- längere Zeit unternahm, wurde er Mitglied des Instituts und sah so seine Anstrengungen um die Herstellung eines ans