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Deutschland.
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den Kranken durch den Staat. Es wäre beklagenswert, wenn den menschlicheil Dingen wirklich ein solcher unheilbarer Mangel anhaftete, wenn die Arbeit, die eine so große und unentbehrliche Aufgabe in der Gesellschaft erfüllt, notwendig und für immer mit der Armut verknüpft wäre: alsdann wäre der stete Zerfall der Gesellschaft in zwei Klaffen von grundverschiedener Lage und entgegengesetztem Interesse, Besitzende und Proletarier, eine unabänderliche Notwendigkeit und jede Hoffnung auf ein homogenes Volk und eine hellere Zukunft aussichtslos. Indessen diese pessimistische Auffassung verliert allen Boden, sobald man sich überzeugt, daß die hilflose Lage des Arbeiterstandes nicht in einer unabänderlichen Notwendigkeit ihren Grund hat, sondern in einer Unvollkommenheit des Rechts, und zwar nicht des öffentlichen, sondern des Privatrechts, die gehoben werden kann, sobald der Wille dazu da ist, und daß wir in dieser Hinsicht uns nur noch im Rückstände befinden mit einer durch den Gang der geschichtlichen Entwickelung uns deutlich vorgezeichneten Reform des Privatrechts.
Man muß dem ökonomischen Liberalismus «der Manchesterpartei) darin beitreten, daß der Nerv des wirtschaftlichen Lebens die persönliche Freiheit ist, und das freie Zusammenwirken der wirtschaftlichen Einzelkräfte sich vvn selbst nach Vernunftgesetzen vollzieht und den bestmöglichen wirtschaftlichen Erfolg für das Ganze und für die Einzelnen gewährleistet; aber er irrt in der Annahme, daß diese Freiheit schon vollständig vorhanden, daß insbesondere die Arbeit ein freies Element in der wirtschaftlichen Bewegung sei. Er verwechselt dabei die moralische Freiheit mit der realen. Die erstere, die innere Willensbestimmung, ist dem Menschen unter allen Umstünden, auch im Naturzustände, gesichert, die letztere, die Verwirklichung der Willensbestimmungen anderen gegenüber, mir in der organisierten Gesellschaft, im Staate. Im Naturzustände giebt es keine reale Freiheit, sondern der stärkere bezwingt den Schwächeren und unterwirft ihn seinem Willen. Um ihrer realen Freiheit willen, und nur deshalb, leben die Menschen in staatlichen Gesellschaften, sie stellen damit eine gesellschaftliche Gesamtkraft her, die stärker ist als jede Privatgewalt, und deshalb im stände, allen legitimen Willensbestimmungen, für die sie eintritt, die Verwirklichung zu sichern und Schutz vor Unterdrückung zu gewähren. Es wird damit ein neues Kräfteverhältnis zu Gunsten der persönlichen Freiheit geschaffen, eine gesellschaftliche Dynamik, welche die reale Freiheit der Einzelnen aufrecht erhält. Es ist klar, daß der Schutz der gesellschaftlichen Macht nur den legitimen Witlensbestimmnngen gewährt werden darf, d. h. denjenigen, die sich nicht mit dem Zwecke der Gesellschaft, der allgemeinen realen Freiheit, in Widerspruch setzen. Die Norm dafür, welche Willensbestim- mnngen legitime, von der gesellschaftlichen Gesamtkraft zu vertretende sind, ist das Recht, und, soweit es sich um das hier allein in Betracht zu ziehende wirtschaftliche Leben handelt, das Privatrecht. Dieses, welches bestimmt, wo der unwiderstehliche Druck der gesellschaftlichen Gesamtkraft wirkt und wo er ausbleibt, bestimmt mit Notwendigkeit Bewegung und Gestalt des wirtschaftlichen Lebens: wer darin kein Recht hat, hat auch keine Macht und unterliegt wehrlos den mit Rechtsschutz ausgestatteten Kräften. Das Recht entspricht seiner Aufgabe nur dann, wenn es seinen Schutz allen nach dem Wesen des Rechts legitimen Willensbestimmnngen gleichmäßig gewährt; es widerspricht sich selbst, wenn es nur eiueu Teil der legitimen Willensbestimmungen sanktioniert, einen anderen aber rechtlos läßt, denn dann unterwirft es den letzteren dem ersteren und schafft einen Zustand der Ungleichheit und Unfreiheit, der von der gesellschaftlichen Gesamtkraft aufrecht erhalten wird, obwohl diese ihrem Zwecke nach nur der Freiheit dienen soll.
Allein das positive Recht, das praktisch allein den Ausschlag giebt, ist zu keiner Zeit vollkommen und widerspruchsfrei, es ist immer nur Resultat einer voraufgegangenen Kultur- entwickelnng und weist stets auch auf eine weitere Ausbildung in der Zukunft hin, es stellt jederzeit eine besondere Ausgabe. Die Aufgabe unserer Zeit ist offensichtlich die, das Privatrecht
liche Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit im Sinne der Freiheit und Gleichberechtigung beider zu regeln.
In der wirtschaftlichen Produktion ist das Kapital auf die Arbeit und die Arbeit auf das Kapital angewiesen; das erstere ist unfruchtbar ohne die Arbeit, die letztere kann sich, ausgeschlossen von ihrem Material, nicht bethätigen. An sich also sind beide gleichberechtigt, beide, sobald sie sich der Wirt schnftlichen Produktion zuwenden, gleichmäßig legitime Willensbestimmnngen, und es ist nicht einzuseheu, »vorauf der eine dieser wirtschaftlichen Faktoren einen rechtlichen Vorzug vor dem anderen begründen könnte. In der Wirklichkeit aber, in der von dem geltenden positiven Rechte beherrschten modernen Gesellschaft, ist das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit das der schroffsteil Rechtsungleichheit: das Kapital, das Eigentum, steht da im vollsten Rechtsschntze, gegen Angriffe, wie sie im Naturzustände möglich sind, völlig gesichert; die Arbeit dagegen genießt keinen Rechtsschlitz, der Arbeiter hat, wie im Naturzustände, nichts als seine Arbeitskraft lind dabei nicht einmal, wie in diesem, die Möglichkeit, das ihm zur Ausübung der Arbeit nötige Material zu occupieren oder mit Gewalt zu erobern. Wenn diese beiden nun sich auf dem Markte des Lebens begegnen, das Eigentum als eine unangreifbare Macht, die Arbeit völlig wehrlos, so muß sich die letztere dem ersteren aus Guade und Ungnade ergeben, sie muß, um nur überhaupt die ihr um des Lebeus willen nötige Verbindung mit dem Eigentum zu erreichen, sich demselben verkaufen, zum Markt preise, dessen Höhe im großen und ganzen stets durch den notdürftigen Lebensunterhalt des Arbeiters bestimmt wird. Hieran, wenigstens im wesentlichen, können weder die Arbeiter etwas ändern, noch, auch bei dem besten Willen, die einzelnen Unternehmer; auch diese müssen sich, wenn sie konkurrenzfähig bleiben wollen, dem durch das geltende Privatrecht diktierten dy- Hämischen Gesetze fügen, welches die Arbeit zur Ohnmacht verdammt.
Es ergiebt sich hieraus als eine unbestreitbare Forderung des wahren Rechtes, daß durch entsprechende Änderung des geltenden Privatrechts das dynamische Gleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital hergestellt werden muß. Das Privatrecht muß der Arbeit ihr Recht, welches sie bisher noch gar nicht hat, beilegen lind sie dadurch im wirtschaftlichen Leben ebenso stark machen, als es das Eigentum schon ist: alsdann werden beide, als ebenbürtige Faktoren des wirtschaftlichen Betriebes, nur noch auf der Grundlage der Freiheit und Gleichheit paktieren können, und der Arbeit, die des Unternehmers mit eingeschlossen, wird ihr Anteil au den» Werte des in Gemeinschaft mit dem Kapital erzeugten Produktes, der vvn ihr produzierte Mehrwert, von selbst znfallen ohne irgend einen, in jedem Falle schädlichen Eingriff in die freie, in die dann erst freie Bewegung des wirtschaftlichen Lebens. Wie sehr dies eine begründete Forderung des Rechtes ist, ergiebt sich noch deutlicher, wenn man das bestehende Privatrecht auf seinen Inhalt und seine Herkunft näher ausieht. Das in Beziehung aus die hier behandelte Frage in den modernen Kultnrstaaten geltende Privatrecht ist in allen wesentlich gleich, es ist römisches Recht. Das römische Privatrecht ist eine der größten Schöpfungen des menschlichen Geistes, aber eins konnten die Römer nicht schassen, ein Recht der freien Arbeit, daran hinderte sie der Umstand, daß die Grundlage ihres wirtschaftlichen Lebens Sklavenarbeit war. Aus diesem Gesichtspunkt betrachteten sie alle materielle Arbeit, folgerecht war ihnen auch die von Freien für andere geleistete materielle Arbeit etwas der Sklavenarbeit Ähnliches, und sie bildeten dafür ein entsprechendes Rechts- institnt, die Dienstmiete. Der Sklave war ihnen durchaus keine Person, sondern nur Sache, der Freie, der materielle Arbeit für andere leistete, blieb zwar Person, soweit aber der Arbeitsvertrag reichte, war er zugleich uutzbare Sache, er vermietete sich selbst als solche, er war Subjekt und Objekt zugleich. Dies nun ist das Rechtsiustitut, das bis heute iu der wirtschaftlichen Produktion für die fremdem Kapital geleistete Arbeit maßgebend ist. Diese Arbeit ist also wesentlich Sklaven-