Heft 
(1889) 23
Seite
391
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23 . Deutschland. Seite 391 .

Zum NuUäum emer chemischen Nsleorie.

Von

Nt'. Robert Henriques.

Deutsche chemische Gesellschaft, unser größter Fach- verein nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb Deutschlands, rüstet sich, am ll..März ein Jubi- läuin eigener Art zu begehen. Nicht das zum sech­zigsten, siebzigsten oder gar achtzigsten Male wiederkehrende Wiegenfest eines der Großen im Reich der Chemie gilt es zu feiern, nicht den Jahrestag, da der Träger eines später berühmt gewordenen Namens den Doktorhut empfing, oder an dem eine ruhmreiche Doeentenlanfbahn ihren Anfang nahm, nein, der Jubilar ist überhaupt keine Person, wenn auch der zu Feiernde noch in voller Rüstigkeit unter lins wirkt, der eigentliche Jubilar aber ist nicht mehr und nicht weniger als eine Hüpcllhcse.

Zn Anfang dieses Jahres sind llo Jahre verflossen, seit der berühmte Lehrer der Chemie in Bonn, Friedrich August Keknlä, erstmalig seine Ansichten über die Konstitution der soge­nannten aromatischen Substanzen bekannt gab, deren wesent­lichen Inhalt man unter dem Namen der K. scheu Benzol­theorie znsammenznfassen pflegt. Im Jahre 1863 in franzö­sischer Sprache veröffentlicht (K. war damals noch Professor­in Gent» erschien diese Arbeit erst im folgenden Jahre in der dentschen Muttersprache lind erregte gleich von vornherein ein g eg ndetes Anfseh eii.

Nicht als ob die neue Theorie sofort alle oder doch die meisten Chemiker überzeugt hätte, im Gegenteil, lange und hart genug hat sie um ihre Anerkennung streiten müssen, gleich zäh verteidigt von ihren Freunden, wie bekämpft von den Gegnern; aber gerade dieser Streit, der ihr Ansehen immer mehr festigte, war die Quelle überraschender Fortschritte und reicher sowohl wissenschaftlicher wie praktischer Allsbellte. Warf die neue Hypothese ein überraschendes Licht ans eine ganze Reihe bereits bekannter Thatsachen, erlaubte sie, eine Unmenge von Cinzel- bevbachtnngen von einem Gesichtspunkte ans zu erklären, so stellte sie andererseits dem Scharfsinn und der Findigkeit der Chemiker stets neue Aufgaben und wirkte so für lange Jahre hinaus, ja bis ans den heutigen Tag befruchtend lind segen­bringend für unsere ganze Wissenschaft. Das ist es ja aber gerade, was das Wesen einer jeden gesunden und bedeutenden Hypothese ansmacht. Eine solche will sich nicht als absolute Wahrheit geben, denn nur da stellt sie sich ein, wo ein mathe­matischer Beweis unmöglich erscheint; sie soll vielmehr einerseits alle vorhandenen Thatsachen besser als jede andere Annahme erklären tonnen, andererseits zu praktischen Resultaten und Fortschritten den Anlaß geben. Und wahrlich, reichlich ent­sprochen hat Keknlös geniale Theorie diesen Ansprüchen. War die Klasse der aromatischen Substanzen bis zum Jahre 1865 dem neu entstandenen Villenviertel an der Grenze der Groß­stadt zu vergleichen hie und da ein Hans, ein Garten, dann wieder mitten in der Einsamkeit eine ganze Straße, die sich ihrerseits bald verliert so dürfen wir heute von ihr als von einer wohlausgebanten und immer noch weiter wachsenden Cen­trale reden, dnrchströmt voll mächtig flutendem und doch genau geregeltem Leben. Aber nicht nur zu wissenschaftlichen Fort­schritten hat sie den Anlaß gegeben, auch die Technik verdankt ihr reichste Förderung, und nicht umsonst ist es, daß der Ge­danke einer Keknlefeier zuerst im Kreise der Anilinsarben- fabrikanten anfgetancht ist.

Wenn ich es mm unternehmen will, das Wesen dieser fundamentalen Theorie dem Verständnis eines größeren Publi­kums näher zu bringen, so geschieht das nicht ohne einiges Bangell. Darf schon die graue Theorie der Wissenschaft an und für sich nicht ans große Aufmerksamkeit und Geduld des Laien rechnen, so gehören speciell die Grnndzüge unserer chemi­schen Anschauungen leider noch bei weitem nicht zum eiserneil Wissensfond der Gebildeten. Es ist aber nötig, ans diese Grundlagen zu fußen, will man Kcknläs Ansichten über die

Konstitution des Benzols und seiner Derivate auch mir ober­flächlich verstehen. So muß ich denn ziemlich weit ausholcn, um ein solches Verständnis anznbahnen.

Als Atome bezeichnen wir bekanntlich die kleinsten, nicht weiter teilbaren Massenteilchen der chemisch einfachen Grund­stoffe. Zn der Annahme solcher Atome nötigte die Beobachtung, daß die Vereinigung der Elemente zu neuen, zusammengesetzten Körpern stets nach bestimmten Gewichtsverhältnissen, den soge­nannten Mischungsgewichten, stattfindet. Die absolute Größe der Atome mm kennen wir nicht, wohl aber können wir be­stimmen, wie sich die Größe der verschiedenen Atome zu einander verhält. Man hat deshalb das kleinste aller Atome, das­jenige des Wasserstoffes, als Einheit genommen nnd bezeichnet als Atomgewicht diejenige Zahl, welche angiebt, das wieviel­fache die kleinsten Teile der einzelnen Elemente von demjenigen des Wasserstoffes betragen. Diese Gewichte bezeichnet man mit den Anfangsbuchstaben der lateinischen Namen der Elemente, also beispielsweise 1 1 für Wasserstoff (Ipycki-oA-oniuin), O für Sauerstoff (oxvg'eniuQi), X fiir Stickstoff soitk-obeiiinin) nnd 0 für Kohlenstoff (cmiVo). Die kleinsten Teile der zusammen­gesetzten Stoffe aber, die sich durch Vereinigung der Atome bilden, bezeichnet man als Moleküle.

Man sah nun bald, daß die einzelnen Atome eine ganz verschiedene Anzahl fremder Atome zu binden im stände waren. So verbindet sich ein Atom Chlor (Ol) mit einem nnd nur mit einem Atom Wasserstoff zu einem Molekül Chlorwasserstoff oder Salzsäure, der man aus selbstverständlichen Gründen die For­mel 11(3 beilegt. Der Sauerstoff hingegen vermag sich mit zwei Atomen Wasserstoff znm Wasser flick >, zu vereinigen, der Stickstoff bildet mit drei Atomen Wasserstoff das Ammo­niak (Ift.X) nnd der Kohlenstoff mit vier Atomen Wasserstoff das Grubengas slckchf). Man nennt solche Atome wie das Chlor nnd den Wasserstoff ein-, solche wie den Sauerstoff zweiwertig, bezeichnet ferner den Stickstoff als dreiwertiges nnd den Kohlenstoff als vierwertiges Element, nnd redet im allgemeinen von der Anzahl vonValenzen," die einem Ele­ment eigen sind. Eine Verbindung aber ist nur dann existenz­fähig, wenn sämtliche Valenzen der in ihr enthaltenen Atome zur Wirkung gekommen,gesättigt" sind?

Nun ist es aber keineswegs nötig, daß beispielsweise die vier Valenzen des Kohlenstoffs auch durch vier einwertige Atome etwa des Wasserstoffes gesättigt seien; ihre Stelle können ebenso gut zwei zweiwertige Atome, wie Sauerstoff, oder ein dreiwertiges und ein einwertiges, wie Stickstoff nnd Wasserstoff, vertreten. So entstehen Körper von den Formeln CO,, «Kohlen­säure» nnd OXH «Blausäure). Ja noch weiter: es kann auch, um auf das bereits erwähnte Grubengas zurückzugehen, in diesem, während drei Valenzen des Kohlenstoffes durch Wasser­stoff ersetzt bleiben, die vierte durch ein zweiwertiges Element, sagen wir Sauerstoff, vertreten sein, dessen zweite freie Valenz ihrerseits durch ein einwertiges Element, wie Wasserstoff, gebun­den wird. So würde ein Körper von der Formel lO,OOlI i Holzgeist) entstehen. Ebenso kann natürlich auch ein Kohlen- stvfsatom vermittelst einer Valenz an ein zweites Kohlenstoff­atom gebunden sein, während die drei anderen Valenzen jedes dieser Atome anderweitig gesättigt sind. Man sieht leicht ein, daß es so möglich sein muß, eine beliebig große Zahl von Atomen verschiedener Wertigkeit zu Molekülen beliebiger Größe aneinanderznketten. In der That entspricht das Bild der Kette am klarsten den thatsächlichen Verhältnissen, der Kette, deren einzelne Glieder die verschiedensten Atome bilden können. Jedes derselben haftet am anderen, nnd kein Glied kann gelöst werden, ohne daß die ganze Kette zerreißt. Dabei stellen die ein­wertigen Atome die endstündigen Kettenglieder vor, welche gleich­sam nur mit einem Haken versehen sind nnd daher nur mit einem einzigen anderen Gliede vereinigt werden können. Ist dies eine Glied ebenfalls ein einwertiges Atom, so hört die

" Auf die wenigen Falle einzugehen, in denen unsere Theorie noch ungesättigte Affinitäten anninnnt, versage ich wir dei dieser möglichst einfach zu haltenden Schilderung.