umgingen sie geschickt und zartfühlend jede Familienstandsbezeichnung überhaupt. Die Unverheirate blieb damals auch nach einer Niederkunft Fräulein, ihr Kind war ein vaterloses. Die rigiden Normen der christlich-bürgerlichen Gesellschaft ließen andere Etikettierungen nicht zu. Getroffen hat all dies auch Petersen, den Großvater. Seine pastorale Karriere, wenn er je eine erhofft haben sollte, war mit dem ersten Schrei einer solchen Enkelin am Endpunkt angelangt. Während Schwarzkoppen, der andere Theologe auf Holkenäs, vom Wernigeroder Pfarrer zum Seminardirektor in Arnewiek aufgestiegen ist (14) und im Laufe der Romanhandlung weiter zum Generalsuperintendenten von Stettin aufrückt, ein „wirkliches Kirchenlicht" wird, wie Arne es ausdrückt (238), beschließt der alte Petersen seine Laufbahn dort, wo er sie vor Jahrzehnten begonnen hatte, in Holkeby, als Pfarrherr einer Feldsteinkirche, die „weder Chor noch Turm hatte" (8), die „für eine Scheune hätte gelten können, wenn nicht die hohen Spitzbogenfenster gewesen wären", und deren Glocke „unter ein paar Schutzbrettern an der einen Giebelseite der Kirche" (51) hing: Symbole, wie es scheint, des verhinderten Aufstiegs, des Verbanntseins in rustikale Dürftigkeit, des Kompromittiertseins durch eine sogenannte Familienschande.
Die Hypothese von der Existenz jenes zweiten Grabes muß auch fernerhin ohne expliziten Textbeleg auskommen und kann sich allein durch das recht fertigen, was sie zur Interpretation des Romans leistet. Ist sie aber, wenn schon nicht verifizierbar, so wenigstens konkurrenzlos? Kann Kruses Grab nicht auch ein namenloses sein, wie es deren immer gegeben hat? Ruht er vielleicht auf einem anderen Friedhof, hat Elisabeth von ihm nur erzählt? Oder ist er gar nicht tot, hat sie nur deshalb „ihren Vater gar nicht mehr gekannt", weil er in Elisabeths frühesten Lebensjahren nach Amerika ausgewandert ist? Auf all dies kann mit nein geantwortet werden. In all diesen Fällen hätte Asta das, was sie zu wissen glaubt, bloß erfahren. Sie hat es jedoch gesehen. Das Grab ist also wirklich vorhanden, es trägt wirklich eine Inschrift, und der Name auf der Inschrift lautet „Kruse". Es ist ein kleines Kunststück für sich, wie Fontane hier einen Gegenstand, der mit keinem Laut erwähnt wird', dennoch zur Gewißheit macht, ja bis in ausschlaggebende Details geradezu beschreibt. Auch die psychologisch subtile, in ihrer Motivstruktur für den gesamten Roman (wie noch zu demonstrieren sein wird) maß- und formgebende Gesprächsszene an diesem Grab dürfte sich kaum anders rekonstruieren lassen als in der hier versuchten Weise. Der Proteus, der Spuren verwischt hat, die wiederzufinden sind (R. Brinkmann), liefert seinem Leser gleichwohl das zum Wiederfinden Nötige mit allesbedenkender Umsicht in die Hand.
Wie sehr es sich lohnt, an solchen Dreh- und Entscheidungspunkten eines Fontane-Romans auch auf das Unscheinbarste, Unverdächtigste achtzugeben, lehrt ein Seitenblick auf Interpunktion und Gliederung der Textstelle. Astas Bericht vom Gespräch vor dem Grabe endet mit Anführungszeichen und Absatz, der nächste Passus beginnt mit neuen Anführungszeichen, und dennoch findet kein Sprecherwechsel statt 5 : „,Und dann', fuhr Asta fort, ,gingen wir den Kirchhofssteig weiter hinauf (...)"' (60). Um solchem Beiwerk überhaupt ein Interesse abzugewinnen, muß man sich zunächst wohl seiner Einmaligkeit vergewissern. Es gibt in der Tat keine zweite Stelle in „Unwiederbringlich",
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