. Deutschland.
Seite 484.
Dir VrrlMtmsse der Offiziere.
Vvn
A. A
scheint in der Thcch als ob unser junger Kaiser einen Blick für die Bedürfnisse des täglichen Lebens und die Stimmung der Volksseele besäße, wie er seit langer Zeit nicht auf Thronen gefunden worden ist. — Ist doch kaum einer der von ihm schon bis jetzt augeregten Gedanken ohne die Zustimmung wenn nicht aller, so doch der weitesten Kreise geblieben; so fast bedingungslos jedoch, von einigen eine Mißdeutung zulassenden Worten abgesehen, ist jedoch noch kein Reformprojekt ausgenommen worden, wie dasjenige über die Offizierverhültnisse in der Armee — niedergelegt in dein denkwürdigen Erlaß vom 29. März l890.
Für diese allseitige warme Aufnahme giebt es hauptsächlich zwei Erklärungen: einmal die tiefe Freude, daß all die Gerüchte über Vorliebe für Luxus und Glanz, die vielfach bei dem Kaiser vorausgesetzt wurden, nunmehr in ein Nichts zerfallen, und andererseits darüber, daß gegenüber dem allerdings thatsächlich unser gesamtes Volkswesen und Leben mehr und mehr durchdringenden — und, sagen wir es offen heraus — zu zersetzen beginnenden Hang zu Wohlleben, Schwelgerei und Luxus gerade von derjenigen Stelle aus entschieden „Halt" geboten wird, welche hierfür als die geeignetste erscheinen muß.
Und in der Thal sind die programmatisch festgelegten Punkte solche, welche nicht nur für den Ofsizicrstnnd und Beruf künftighin von ausschlaggebender Bedeutung sein werden, sondern die auch naturuotwendig ihren Einfluß weit über diese Kreise hinaus und tief in das bürgerliche Leben hinein erstrecken werden.
Ehe wir auf den Erlaß in seinem materiellen Inhalt Angehen, mögen jedoch bei aller schuldiger Ehrerbietung zwei Punkte erwähnt werden, betreffs derer uns teilweise anderer Ansicht zu sein verstelltet sein mag. — Das ist einmal der Grund der gegenwärtigen Manquements in den Offizierbestünden der Armee und sodann die Bildungs-, d. h. Abiturientenfrage.
Angehend den ersteren Punkt, so hebt schon der Erlaß selbst nnt Recht hervor, daß durch die teilweise außerordentlich hohen und plötzlich hervorgerufeuen Cadresvermehrungen — namentlich infolge des Sepwnuats —- allerdings die meisten Regimenter wesentlich in ihrem Bestände an Offizieren, das heißt Lieutenants und Hauptleuten, geschwächt wurden, da die erheblichen Neuformationen eben einen außerordentlich hohen Offizier- Etat plötzlich erforderten. Ein Gleiches wiederholt sich nunmehr teilweise durch die Neubildung der zwei neuen Armeeeorps und die bevorstehende außerordentliche Vermehrung der Artillerie. Aber dieser Mangel ist eben nur doch mehr oder minder als ein vorübergehender anzusehen, da das tägliche Angebot von auf Beförderung dienen wollenden jungen Leuten den sogenannten „Bedarf" weit übersteigt. Und diesem Mangel wäre schon längst abgeholfen, wenn eben die über die Annahme entscheidenden Kommandeure nicht betreffs des „standesgemäßen Herkommens" oft Skrupel hätten, die weit in frühere Jahrzehnte und fast Jahrhunderte zurückreichen, einer modernen Auffassung des militärischen Standes aber schnurstracks widersprechen und eutgegenlaufen. — Es ist hier nicht der Ort, mit einschlägigen Details aufzuwnrten, — die Thatsache kann und darf jedoch nicht verschwiegen werden, daß durch die Zurückweisung ihrer Söhne die achtbarsten Familien des Bürgerstandes, die sich der allgemeinsten Wertschätzung in den erwerbenden ehrenhaften Kreisen erfreuten, sich auf das tiefste nur zu oft verletzt gefühlt haben. — Wäre man hier in den Kreisen der Kommandeure minder zurückhaltend gewesen, so Hütten die Manquements schon heute zum überwiegenden Teile längst mit trefflichem Material gedeckt sein können; denn in drei Jahren lassen sich allermindestens zwei Generationen von Offizier- Aspiranten sowohl heranziehen wie ausbilden.
Die andere Frage — uns nicht minder wichtig erschei
nende — ist die der Vorbildung in wissenschaftlicher Beziehung. Der Erlaß spricht hier von der „engen Grenze des Abiturienteu- Examens," das seitens mancher Regiments-Kommandeure zur Vorbedingung der Annahme gemacht wird. — Nach unseren Erfahrungen können hier nur einige norddeutsche Artillerie- Regimenter und Pionier-Bataillone in Frage kommen. — Nun ist es aber eine Thatsache, daß gerade diese Truppenteile in den weitesten Kreisen der bürgerlichen Bevölkerung geradezu eine gewisse Hochachtung genießen, und zwar aus dem Grunde der bei ihren Ofsiziereorps allgemein vorausgesetzten höheren geistigen Vor- und Ausbildung, eben weil die Mitglieder derselben fast durchgehends Abiturienten sind. Wir selbst erkennen voll und ganz an, daß unsere heutigen, hier in Frage kommenden höheren Lehranstalten, sowohl die Gymnasien mit ihrer klassischen Tendenz, wie die Realgymnasien mit der mehr in den Vordergrund tretenden praktischen Ausbildung, nichts weniger wie Anstalten sind, welche dem Ideale einer solchen Bildungsanstalt genügen. — Trotzdem aber möchten wir behaupten, daß der Unterschied zwischen einem Abiturienten solcher Schulen und einem mit dem Sekundaner- oder notdürftigen Primanerzengnis abgegangenen und alsdann „gepreßten" jungen Mann ein ganz gewaltiger ist. — Wer je Gelegenheit gehabt hat, gleichzeitig in Ofsiziereorps mit der einschlägigen verschiedenartigen Ergänzung zu Verkehren, wird sich unmöglich aus die Dauer dem außerordentlichen Unterschiede haben verschließen können, der in Bezug auf eruste Lebensauffassung und gediegene Anschauung über den Beruf sowie vor allem das Bewußtsein, daß der Soldatenstand nicht absoluter Selbstzweck ist, in diesen zwei Gruppen bei jeder - auch - der kleinsten Gelegenheit zum Durchbruch und zur Bethätignng kommt. — „Der Kommiß," wie der technische Ausdruck lautet, d. h. der tägliche kleiue und kleinste Gamaschendienst, der zweifellos etwas Geisttötendes hat, wirkt bei jenen Leuten lange nicht so, als wie bei der anderen Gruppe. An dieser Thatsache kann auch der Umstand nichts ändern, daß sehr viele tüchtige Offiziere und Generäle aus jener Klaffe hervorgehen, — das Genie bricht sich eben überall Bahn. Der Fonds, den ein Abiturient in Geist und Herz, in Gestalt einer immerhin mehr oder minder doch abgeschlossenen Bildung gesammelt hat, wirkt noch, man mag die Sache drehen wie man will, auch im täglichen Dienst, und gerade dieser unleugbaren Thatsache haben Artillerie und Ingenieure es zu verdanken, daß sie, wie schon erwähnt, in Bürgerkreisen als die „ersten" gelten und in dem Kreise der Armee allmählich sich als völlig gleichberechtigt herausgearbeitet haben, eine Stellung, die ihnen bekanntlich noch vor wenigen Jahrzehnten absolut nicht clo laoto eingeränmt wurde. — Außerdem aber — und das ist namentlich bei dem absoluten Subordinationsverhältnis des Militärstandes ein außerordentlich wichtiger Faktor — werden Abiturienten, weil mindestens zwei bis drei Jahre älter und reifere Jünglinge — sich ungleich mehr wie kaum achtzehnjährige Jünglinge, die plötzlich zu den Epauletten gekommen sind, verleiten lassen, von eben diesem Subordinationsrecht einen zu schroffen Gebrauch zu machen. Daß der Ton, welcher seitens mancher Offiziere der Mannschaft gegenüber angeschlagen wird, dem sozialen Frieden wahrlich nicht förderlich ist und es auch nicht sein kann, wenn der Wehrpflichtige später wieder in den Civilstand zurücktritt, sollte in einem Zeitalter wie dem unsrigen von den betreffenden Kreisen selbst ungleich mehr in Rücksicht gezogen werden, als es thatsächlich geschieht. — Auch hier sind die Maßregeln und namentlich die Ansprache des Kaisers bei der jüngsten Kadetten-Verteilung über die Behandlung der Mannschaften von dein bedeutendsten Werte, und es bleibt nur zu wünschen, daß diese Anordnungen auch überall die notwendige Beachtung finden möchten. Unser Volk ist eben ein „Volk in Waffen" und diese Thatsache hat unter Umständen auch eine Kehrseite: ein und einhalb Million sozialdemokratische Stimmen, die zu dreiviertel der Armee mehr oder minder als Ersatz oder Landwehr noch heute angehören, sind ein deutliches Menetekel. Wir sind die letzten,