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Deutschland.
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wandeln begonnen, und was früher volle Kraft war, ist nur zu sehr zur hohlen Phrase geworden. Dementsprechend haben auch gewisse Festtage des Lebens bereits sich umzngestalten ebenfalls angefangen. Wo z. B. es gilt, die Liebe zu Fürst und Vaterland zu bekunden, da vermeint man in jüngster Zeit nicht mehr genug zu thun, wenn allein was man wünscht und was das Herz bewegt, ein schlichter und weil von Herzen kommender deshalb auch zu Herzen gehender Ansdruck gegeben wird, — nein, vielmehr sucht man sich von Fall zu Fall und Ort zu Ort — und sei es selbst die von Schulden und
Steuern gedrückteste Gemeinde — gegenseitig zu überbieten,
gerade als wenn der Patriotismus nach dem ausgegebenen Gelde und die Liebe zu Thron und Vaterland nach den Guir- landen und dein Flittergolde gemessen würde, die Wege und Stege nur zu oft verunzieren. — Auch hier thnt gründlicher Wandel not, und täuscht uns nicht alles, so wird auch hier
Wilhelm II. den notwendigen Reformen den richtigen Weg
weisen.
Zn W.k Uordnns „EiiolntinilijWkr Ästhetik."
Von
vl. Paul Otto Schmidt. (Fortsetzung.)
E^^ei der Erklärung des sog. Reizenden streift Nordau wenigstens etwas Richtiges, indem er darüber sagt: „Das Reizende ist die Empfindung, welche von Erscheinungen erregt wird, die in einer gegebenen Zeit eine große Zahl von Sinneseindrücken Hervorbringen und eine lebhafte Thätigkeit der Wahrnehmungs-, Verstandes- und Urteilscentren veranlassen. Eine nackte Wand wirkt langweilig, weil sie bloß einen einzigen Gesichtseindruck hervorbringt und keine regere Dentnngsthätigkeit des Gehirns notwendig macht. Eine reichgeschmückte Wand wirkt dagegen reizend, weil sie ans einen einzigen Blick zahlreiche Gesichtseindrücke und eine große Den- tungsthütigkeit des Gehirns anregt." Wenn man hierzu noch einiges andere, was er unmittelbar darauf folgen läßt, hinzunimmt, so kann man sagen, daß Nordan von der Notwendigkeit einer gewissen Intensität (Stärke) und Extensität (Zahl, Maß) für ästhetische Empfindungen einen blassen Dämmerschein gehabt hat. So z. B. bemerkt er: „Was viele gleichzeitige, ohne Mühe wahrnehmbare Eindrücke giebt, das giebt dem Bewußtsein eine größere Intensität und dem Individuum eine reichere Empfindung seines Lebens." Es ist merkwürdig, wie Nordan hier selbst auf der falschen Fährte zufällig etwas Richtiges aufjagt, aber es offenbar laufen läßt, weil er seine volle Bedeutung nicht erkennt. Daß überdies jene Intensität und Extensität sür jedes Individuum nach oben und unten eine Grenze hat, die nicht überschritten werden darf, sofern das Gefühl, die Empfindung u. s. w. nicht unästhetisch werden soll, darüber scheint ihm kein Licht aufgegangen zu sein; wenigstens deutet er nirgends dergleichen darüber etwas an.
Wenn also — um das Gesamtresultat der vorangegange- uen Untersuchung zu ziehen — Nordan behauptet, das Reizende und das Erhabene stünde immer mit dem Selbsterhaltungstriebe in Beziehung, so ist dies falsch. Wenn die Selbsterhaltung in Frage kommt, so regt auch schon etwas nicht Reizendes und nicht Erhabenes eine „große Deutnngsthütig- keit des Gehirns" an. Dieselbe ist aber in diesem Falle keine freie, ästhetische, sondern eine unfreie, unästhetische Lebensbethätignng: eine Arbeit.
Es kann allerdings das Reizende und das Erhabene mit der Selbst- oder Arterhaltung in Beziehung stehen und doch ästhetisch wirken. Wie wir schon angedeutet haben, kann etwas zugleich nützlich, gut n. s. w. und schön, ästhetisch sein; aber es muß sich dies nicht immer so verhalten. Ein rein ästhetisches Reizmittel wirkt hiervon ganz unabhängig. So giebt es ja auch in materieller Beziehung Nahrungsmittel, die
zugleich Genußmittel sein oder enthalten können, und reine Gennßmittel, die nicht oder kaum die Spur eines Nährwertes haben: wie z. B. Tabak, Wein u. s. w. Das Horazische «Ick ^,ro<l688o voluirt et ckeloetare» würde also richtiger heißen: -Ick j>r(X>688(; P 088 uut et ckeleetrrre sxxckxe.»
Bezüglich des „Zweckmäßigen" trifft Nordan insofern etwas Richtiges, als er dasselbe nicht eigentlich als „schön" (für die Empfindung), sondern als „befriedigend" (für den Verstand) gelten läßt. In der That wirkt das Zweckmäßige vorzugsweise auf den Verstand: die höheren Wahrnehmnngscentren ästhetisch. Wenn der Verstand etwas sofort — ohne mühsam suchen zu müssen — als im ganzen wie in den Teilen wohl- geordnet und mit sich übereinstimmend erkennt, so hat er dasselbe Vergnügen, denselben Genuß, welchen die niederen Wahr- nehmungscentren (Sinne u. s. w.) an schönen Farben und reinen Tönen haben. Das geht bis in die höchsten Wahrnehmungsund Urteilscentren: die kompliziertesten Verstandes-, Urteils- u. s. w. Thütigkeiten hinaus. Nicht bloß der Künstler und Kunstwerke Genießende, auch der Wissenschaftler und Wissenschaft Erlernende, Empfangende kann dies an sich erfahren. Welchem richtigen Mathematiker z. B. wäre nicht das rein ästhetische Vergnügen an einem einfachen, klaren und doch vollständig erschöpfenden Beweis, einer einfachen, übersichtlichen und doch für ihren Zweck völlig ausreichenden Formel bekannt? Indem er in diesen Fällen thatsächlich von „Eleganz": einer „eleganten" Formel, einem „eleganten" Beweis n. s. w. spricht, bekundet er unzweideutig, daß er von diesen Sachen einen ästhetischen Genuß hat. Dasselbe Vergnügen hat der wahrhaft edle Mensch an einer moralisch nicht bloß guten, nützlichen, sondern wirklich „schönen" Handlung, wenn er eine solche sieht, von ihr hört, und noch mehr, wenn er sie selbst verrichtet. Hierin liegt z. B. der tiefe Sinn des bekannten Wortes: Geben ist seliger, denn nehmen. Bekanntermaßen ist es ja auch möglich, daß der bloße Stil, die Schreibweise, ganz abgesehen vom Inhalt, genau so wie bei poetischen Produkten ästhetisch wirken kann. Das Ästhetische erstreckt sich eben, wie schon eingangs angedeutct, ans jegliche Gattung und Art von LebensbethÜtignngen, sofern nur für diese die hier dargelegten Bedingungen erfüllt sind.
Soweit ist es denn auch ganz richtig, wenn Nordan sagt: „Die ästhetische Wirkung des Zweckmäßigen hängt mit dein Triebe des Menschen zusammen, die Erscheinungen zu begreifen und ihre sinnlich nicht wahrnehmbaren Gesetze zu erraten." Indem ihm aber diese einfache Erklärung nicht zu genügen scheint und er in der Folge durchaus den Selbsterhaltungstrieb hineinzuschmuggeln sucht, verdirbt er wieder, was er vorher gut gemacht.
Nachdem Nordau so der Selbsterhaltungstrieb um jeden Preis hat herhalten müssen, um das Reizende, das Zweckmäßige und das Erhabene für seine „Evolntionistische Ästhetik" ansznnutzen, scheint ihm der Arterhaltnngstrieb geeignet genug, um dasselbe mit dem „Niedlichen" und dem eigentlich „Schönen" zu thnn.
Als „schön" soll jeder Eindruck empfunden werden, der in irgend einer Weise, sei es direkt, sei es durch Gedankenverbindungen (Jdeenassociationeni das höchste Geschlechtscentrum im Gehirn anregt. Der Urtypus des Schönen soll nun für den Mann das im geschlechtsreifen Alter stehende und fortpflanzungstüchtige, also junge und gesunde Weib sein. Wenn Nordan dieses — sofern es bezüglich seiner äußeren Erscheinung noch gewisse andere Bedingungen erfüllt, also nicht bloß jung und gesund ist — als eins von den außerordentlich zahlreichen und mannigfaltigen natürlichen und künstlichen Anregungsmitteln zur freien, ungezwungenen Thätigkeit des Organismus, ja selbst als das kräftigste aller hinstellen wollte, so würde kaum ein Vernünftiger etwas dagegen einzuwenden haben, obwohl auch dieser Ansicht schon eine Art romantischer Überschwenglichkeit zu Grunde liegt. Nordau hat aber die fixe Idee, alle „schönen" Empfindungen überhaupt — direkt oder indirekt — hierauf zu beziehen: ihren Ursprung hieraus herzu-