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Deutschland.
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leiten. Er meint z. B., daß „in den Beziehungen der Geschlechter zu einander" nicht nur alle drei, sondern sogar alle neun „siby klinisch er: Bücher einer natürlichen Schönheitswissen- schast" enthalten seien.
Es ist ordentlich spaßhaft zu sehen, wie hier das sog. schematisierende Denken: die mehr oder minder gewaltsame Einpfropfung durchaus verschiedener Wesenheiten in ein und dasselbe Gedankenschubfach — welches Verfahren Nordau in dem unmittelbar darauf folgenden Essay: „Symmetrie" mit so viel unnötigem Aufwand von Scharfsinn bekämpft — gerade ihn: selbst den allerschlimmsten Streich spielt. Er läßt sich hier seine Schemntisierungskreise so wenig stören, daß ihm kaum die Nächstliegenden Konsequenzen seines Verfahrens leise aufdüm- mern. Er bemerkt kaum, daß hiernach allen schönen Künsten eigentlich keine andere Aufgabe zufalle, als die Geschlechts- eentrn — gleichviel ob die niederen oder die höheren — anzuregen. Auch wenn man diese Ansicht, die er mit einer ziemlich groben Dialektik gegen die ersten, von ihm selbst ausgehenden Angriffe verteidigt, für alle schönen Künste mit alleiniger Ausnahme etwa der Architektur als teilweise richtig gelten lassen wollte, so bliebe sie immer noch verschroben und einseitig genug. Es könnte ja hiernach nicht nur ein Bauwerk, ein Denkmal, sondern auch ein Musikstück, ein Gedicht u. s. w. niemals „schön," auch niemals „niedlich," sondern höchstens „reizend" oder „erhaben" wirken, und das letztere auch nur dann, wenn es mit dem Selbsterhaltungstriebe in Beziehung steht! Wenn dagegen eins von den genannten Kunstwerken weder „reizend" noch „erhaben" wirkte, aber dennoch deutlich einen ästhetischen Eindruck machte, so könnte er nur derartig sein, daß er die höheren oder niederen Geschlechtseentren anregte. Es bliebe ja nichts weiter übrig, als das „Niedliche" oder das „Schöne," und diese müssen ja nach Nordau mit dem Gattungserhaltungstriebe Zusammenhängen! Hier dürfte die Absurdität auch dem konfusesten Kopfe einigermaßen klar werden.
Bis hierher mochte man Nordau mit seiner evolntioni- stischen Ästhetik noch leidlich gern folgen, weil seine Ansichten bei aller Verschrobenheit immerhin ein gewisses Interesse erregten. Sobald er aber mit dem sog. „Niedlichen" anfängt, die Empfindung des „Niedlichen" zu erklären versucht, vermag man das nicht mehr. Der tiefsinnige Philosoph sinkt hier zum seichten Plauderer herab, der seinen Lesern allen Ernstes unter anderen: z. B. glauben machen will: der nordamerikanische Indianer hielte thatsächlich und eigentlich „einen Schiebkarren für den Sohn eines Lastwagens," weil er — wie fast alle Natur-, ja selbst Kulturvölker — das Größenverhältnis mit der Beziehung zwischen Kind und Erwachsenen vergleicht und in seiner Sprache demgemäß bezeichnet. Weil also z. B. „Mississippi": „Vater der Gewässer" und das Wort „Pistole" auf magyarisch böhvMymllm (Flinten-Jnnges) heißt, so meint Nordau, die Indianer, vielleicht auch die Magyaren, seien nicht etwa so phantasievoll, so bilderreich in ihrer Sprache (was sie ja in der That sein sollen», sondern wirklich so „dumm" (was sie durchaus nicht sein sollen), daß sie thatsächlich glaubten, der Mississippi habe die übrigen Gewässer und der Wagen das Wägelchen in des Wortes eigentlichem, handgreiflichem Sinne erzeugt. Hiernach müßten ja alle in Worten und Wortverbindungen "niedergelegten sprachlichen Metaphern ursprünglich in eigentlicher wirklicher Bedeutung verstanden und nicht bloß — genau so wie heute — als naheliegendes Bild, Symbol, Zeichen u. s. w. gebraucht worden sein. Es ist merkwürdig, was Nordau alles hervvrsucht, um seiner Theorie der ästhetischen Wirkungen einigermaßen Halt und Stütze zu verleihen. Ohne solche Hilfsmittel würde sie freilich auch mit ihren künstlichen Beinen sich nicht aufrecht erhalten können.
Das „Niedliche" soll — um wenigstens ganz kurz darauf einzugehen — diejenige'Erscheinung sein, die direkt oder durch Gedankenverbindungen' an die Vorstellung des Kindes anknüpft und den unmittelbar mit der Gattnngserhaltnng zusammenhängenden Trieb der Kindesliebe anregt. Wenn man auch, zn- geben will, daß beim Erblicken von kleinen Dingen die Gefühle
der Vater- bezw. Mutterschaft bei gewissen Leuten sich regen mögen, so ist das doch jedenfalls ein ganz zufälliges, nebensächliches Moment, welches für die eigentlich ästhetische Wirkung eines Reizmittels gar nicht in Betracht kommt. Wenn diese hiervon allein abhinge, so müßte ja irgend ein Wickelkindchen, sei es auch noch so schlecht gemalt oder gemacht, intensiver wirken als das bestausgeführte andere „Niedliche." Da der Leser nach dieser Probe jedenfalls nicht begierig sein wird, in dieser Richtung noch mehr zu erfahren: z. B. warum Nordau den Frühling zugleich „schön," „reizend" und „zweckmäßig" findet, und wie er das alles mit dem Selbst- und Gattnngserhaltungstriebe zusammenrennt — so wollen wir hiermit abbrechen.
Am Schlüsse des hier in Rede stehenden Essay in den „Paradoxen" bemerkt Nordau nicht ohne einen Anflug von Selbstgefälligkeit, ja mit offenbarer innerer Genugthuung folgendes : „Das sind die Grundzüge der natürlichen, evolntio- nistischen Ästhetik, die, wie man sieht, kein übersinnliches Element anzurusen braucht, um die Empfindung des Schönen zu erklären. Und wenn jetzt ein geduldiger Methodiker diese Leitgedanken zu einem dreibändigen Kompendium answalzen will, so wünsche ich ihm dazu gute Verrichtung."
In der That hat Nordau kein „übersinnliches Element" bei der Grundlegung seines ästhetischen Systems angesprochen. Man braucht aber auch, wie wir gesehen haben, kein „übersinnliches Element" zu Hilfe zu rufen, um seinen ganzen Bau wie ein Kartenhaus zum Einsturz zu bringen. Und wenn ein „geduldiger Methodiker" das wenige brauchbare Material, das Nordau dabei verwandt hat, Hütte znsammenschmelzen und dann breit schlagen wollen, so hätte er höchstens ganz dünnes und an vielen Stellen schadhaftes „Blech" zu stände bringen können. Unseres Wissens ist auch kein strebsamer gelehrte Handwerker oder Industrielle daraus „reingefallen." Schluß folgt.)
KrimdMk einer zeit-emästen Umgestaltung des nlthirnchlichen Unterrichts
auf den höheren Lehranstalten, namentlich den Gymnasien.
Von
KcrrL KöHrr. (Schluß.)
bedarf das Griechische dieser Stärkung des Sprach- Edü gkfühles nicht? Genau in demselben Maße bedarf es desselben wie das Lateinische, und dennoch hat man bisher mit Recht instinktiv vor diesem Mittel zurückgeschrcckt; warum? „Es hat keinen Zweck!" wird jeder antworten. Also haben die Aufsätze und besonders die lateinischen noch und vielleicht ausschließlich einen ganz andern Zweck als den der Kräftigung des Sprachgefühles? Ei freilich! Sie haben lediglich das praktische Ziel vor Angen, eine gewisse Geläufigkeit in der schriftlichen Anwendung der Sprache zu bewirken. Nun aber hat, wie jeder weiß, das Lateinische gar keine Lebensfähigkeit und damit Lebensberechtigung auch nur als gelehrte Schriftsprache mehr in sich, si'AO) wozu haben wir noch irgendwo lateinische Aufsätze? Die theoretische Kenntnis jeder Sprache ist bekanntlich völlig unabhängig von ihrer praktischen Anwendung und es kann, wie schon oben besprochen, durchaus feinste theoretische Einsicht in der: Ban und die eigentümliche Ansdrncksweise einer Sprache neben größter Ungeschicklichkeit, ohne gründliche Übung auch nur den kleinsten Satz richtig praktisch zu bilden, bestehen. Nur wo praktisch ein Bedürfnis vorhanden ist, wie in den neueren Sprachen, hat daher das Aufsatzschreiben Berechtigung, das sogenannte Sprachgefühl wird aber nur durch vielseitige und cindringende Lektüre der fremden Schriftsteller erworben. Aber selbst wenn nun: vorderhand noch ein praktisches Bedürfnis für das Lateinische mit Hinblick ans die Einrichtung unseres