Seite 488.
Deutschland.
^ 29.
Studiums der klassischen Philologie auf der Universität zn- gesteheu wollte, so könnte man doch der jetzigen Methode des lateinischen Aussatzes in Prima wenig Rühmenswertes nachsagen. Es soll kein Gewicht darauf gelegt werden, daß schon der Schüler nur mit dem größten Widerwillen lateinische Aufsätze schreibt, weil er instinktiv die völlige praktische Bedeutungslosigkeit derselben empfindet, es soll nur darauf hingewiesen werden, wie außerordentlich gering die Selbständigkeit der meisten Schüler bei diesen Arbeiten ist. Nicht genug, daß sie dabei durch die Aufgabe, möglichst „eieeronianisch" zu schreiben, also ellenlange Schachtelperioden, zeilenlange „Phrasen" von hohem Klang aber wenig Inhalt, den Sinn für Einfachheit und Klarheit des Ausdruckes verlieren, es wird ihnen durch die oft allzu einseitig hervorgekehrte Forderung, grammatisch fehlerlos zu schreiben, der rechte Sinn für den Wert des gedanklichen Inhalts bald benommen. Fast ein jeder macht bald die Erfahrung, daß er sich zehnmal besser steht, wenn er seine ganze Bemühung auf die Nichtigkeit der Formen richtet, und daß die Beurteilung derselben seitens des Lehrers davon abhüngt, wie beliebt oder unbeliebt er bei diesem ist. So gelangt selbst der Beste bald dazu, seine Aufsätze von Mitschülern durchsehen zu lassen, und gar der Mittelmäßige erst? Dieser findet es am billigsten, wenn er ganze Sätze, ja oft Abschnitte aus gedruckten lateinischen Aufsatzsammlnngen abschreibt; denn hier hat er eine gewisse Bürgschaft für die Richtigkeit der Form — obwohl auch hier oft kuriose Täuschungen sich ereignen — und einen genügenden Inhalt. Es kann durchaus bewiesen werden, daß ein grammatisch zufällig korrekter Aufsatz bei aller Dürftigkeit des Stiles — das Deutsch-Latein des Primaners ist weltberühmt — und erst recht der Gedanken weit günstiger beurteilt wird, mindestens mit „genügend," als ein anderer von wirklich lateinischem Stil und fleißig gedachtem Inhalt, wenn der Verfasser das Unglück hat, vielleicht vier „grobe" grammatische Fehler übersehen zu haben. So wird durch die lateinischen Aufsätze nur die Unselbständigkeit, Gedankenlosigkeit und ein verkehrtes einseitiges Interesse am äußerlich Korrekten genährt: Übelstünde, die jeder einsichtige Lehrer genügend selbst kennt. Solange es sich jedoch immer nur um Lateinisch und Griechisch dreht, dürfte trotz aller vorgebrachten Gründe bei der so eingewurzelten Gewohnheit unaufhörlicher schriftlicher und mündlicher Übungen in diesen Sprachen dennoch nicht eine genügend feste Überzeugung von der gänzlichen Entbehrlichkeit derselben für die zu erzielende theoretische Kenntnis der Grammatik und des fremden Sprachbewußtseins bewirkt sein. Dies wird aber wohl bei jedem sofort der Fall sein, sobald wir andere, ebenfalls tote Sprachen in Betracht ziehen. Schon das Hebräische, wie es noch auf der Schule getrieben wird, liefert ein gutes Beispiel. Auch hier gilt es bei der Prüfung eine sichere Kenntnis der Grammatik nachzuweisen, und dennoch verläßt wenigstens von Prima an jeder auch nur im geringsten einsichtige Lehrer den sonst für unentbehrlich gehaltenen Weg der schriftlichen Übersetzungen ins Hebräische. Ja, hier hört man überhaupt von vornherein nur von Exercitien, und ein hebräisches Extemporale dürfte vielleicht ins Raritäten-Kabinett gehören. Von Prima an jedoch beginnen die sogenannten „Analysen," welche die genaue grammatische Zergliederung einer leichteren Stelle zum Zweck haben. Eine solche Arbeit wird auch bei der Prüfung verlangt: ein Beweis, daß man im Gebiete dieser Sprache merkwürdigerweise die Ansicht hat, daß auch so die nötige grammatische Kenntnis, ja vielleicht am besten so, dar- gethan werde. Verlassen wir aber überhaupt den beschränkten schulpedantischen Gesichtskreis lind betrachten wir die Praxis der älteren, nicht mehr gesprochenen Sprachen auf der Universität! Was der Studierende auch immer wählen möge, es sei sanskrit, arabisch, gotisch, althochdeutsch und mittelhochdeutsch, altenglisch und mitteleuglisch, altfranzösisch und pro- venealisch, altspanisch, altitalienisch u. f. w., in jeder Sprache soll er nicht bloß eingehendste Kenntnis der Beschaffenheit des Hauptdialektes, sondern auch möglichst der Nebenmundarteu paradigmatisch und analytisch vergleichend sich aueignen. Wären
hierfür nun schriftliche Übersetzungen in die fremde Zunge von einer im entferntesten wesentlichen Bedeutung, wie würde nicht da das Extemporaleschreiben und Exereitienanfertigen öffentlich geübt werden, wie würden nicht bei der Prüfung geeignete Klausurarbeiten angeordnet werden, um die Sicherheit des Kandidaten in der betreffenden älteren Sprachstufe zu ermitteln! Ein provencalisches oder althochdeutsches oder altenglisches Extemporale! ein einzureichender Lebensabriß statt lateinisch jetzt gotisch oder altspanisch! ein mittelhochdeutscher oder altfranzösischer, mittelenglischer Aufsatz! Welch homerisches Gelächter- Würde denjenigen Professor verfolgen, wo er nur erschiene, der im Ernste solche Ideale Hütte! Und mit welcher Entschiedenheit würde jeder Studierende den Vorwurf zurückweisen, daß die bloße Lektüre der Schriftsteller nicht genüge, ihm ein sicheres Bewußtsein der Eigentümlichkeit der jeweiligen älteren Sprache zu erwecken! Wer jemals in der Lage gewesen ist, einen älteren Schriftsteller neu herauszugeben und dabei Lücken zu ergänzen, hat die Erfahrung gemacht, daß, sofern ihm von Natur überhaupt die Fähigkeit, die Eigenart einer fremden Sprache zu erfassen, gegeben wird, er so sehr in die Schreibweise jenes eingedrungen war, daß seine Ergänzungen völlig wie aus der Feder des Verfassers hervorgeflossen erschienen; ja, er vermochte vielleicht die Ergänzung eines vorausgegangeneu Gelehrten, die inhaltlich ganz richtig war, doch seinerseits erst formell und stilistisch genau dem Autor auzupasseu: und alles dies, ohne daß er jemals vorher aus seiner Muttersprache den geringsten Satz in die fremde übersetzt hätte!
Bedarf es noch weiterer Beweise? Wollen wir noch erst gar sprachvergleicheude Philologen herbeiziehen, welche gleichzeitig Dutzende von Sprachen mit ihren Verzweigungen bis ins einzelste analytisch und synthetisch stets gegenwärtig im Bewußtsein haben, um uns zu überzeugen, daß schriftliche Übungen nur für die Praxis in einer Sprache und auch hier nur einen sehr beschränkten Wert haben? Was zögern wir also noch? Für das Griechische ist am allerwenigsten praktisches Bedürfnis vorhanden, hier muß die Abschaffung jeder schriftlichen Arbeit jedem eiuleuchteu, und für das Lateinische bedarf es ebenso nur eines festen Griffes, um den so künstlich und dürftig noch fortgesponnenen Lebeusfadeu für immer zu zerreißen! Fort also mit den lateinischen und griechischen Exercitien, Extemporalien und Aufsätzen, soweit letztere noch bestehen; fort aber auch mit allen mündlichen Übungen auf Schule und Universität in diesen Sprachen! Es ist zehnmal fruchtbarer, wenn in den klassischen Seminarieu ein verständiges und inhaltreiches Deutsch gesprochen als ein fragwürdiges hohles Latein geradebrecht werde; es ist hundertmal besser, wenn die kurzen Lebeusabrisse, welche jeder Doktorkandidat einzureichen hat, und die klassischphilologischen Prüfungs- und sonstigen Arbeiten in gelenkem Deutsch als in holprigem Latein abgefaßt werden; es ist tausendmal besser, wenn alle Diplome und öffentlichen feierlichen Anschläge seitens der Universität, wie Einladungen zu Geburtstags- oder Jubilüumsfeierlichkeiten von Fürsten oder Gelehrten, in würdigem, begeisterndem, positivem Deutsch als in einem von den nüchternsten lind banalsten Superlativen strotzenden, in der zusammengeschnürtesten Zwangsjacke stilistischer Schachtelperioden sich bewegenden oder genauer steifbeinigen Latein, dem Schreckgespenst sowohl der kopfschüttelnden studentischen Lehrer als der über ihre Abfassung schwitzenden Herren Professoren, aufgesetzt werden! Die ganze Art der Verwendung der lateinischen Sprache zu gelehrten Zwecken ist heute kaum noch mehr als eine wissenschaftliche Spielerei, welche dem Ernst eines deutschen Denkers nicht mehr genügen kann.
Zugegeben aber nun, daß es möglich sei, alle schriftlichen und mündlichen Übersetzungen ins Lateinische und Griechische auf Schule und Universität völlig abzuschafsen, ohne dadurch der grammatischen Sicherheit und dem Sprachgefühle des Schülers und des Studierenden den geringsten Abbruch zu thun: welche veränderte positive Gestalt müßte dann der klassisch- philologische Unterricht und das Studium der Sprachen annehmen? Nichts ist leichter, als dies zu beantworten, nichts