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Deutschland.
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leichter, als die Brücke über die tiefe und schroffe Kluft zu schlagen, die vorläufig noch Gymnasium und Universität, Schüler und Studenten, den angeschmiedeten und den befreiten Geist trennt! Zunächst ist hervorzuhebcn, welch ungeheure Zeitersparnis durch den Fortfall der schriftlichen und mündlichen Übungen in der Schule und im häuslichen Arbeiten erreicht wird. Rechnen wir für Sexta, Quinta und Quarta nur wöchentlich drei Stunden, so ergiebt dies schon bei vierzig Schnl- wocheu in den drei Jahren 9.40.3 — 360 Stunden! Unter- Tertia, Ober-Tertia und Unter-Sekunda verwenden für Lateinisch mindestens wöchentlich vier, für Griechisch ein bis zwei Stunden, sagen wir zusammen nur fünf, so haben wir in diesen drei Jahren abermals 5.40.3 — 600 Stunden! Mit Ober- Sekunda beginnt der lateinische Aufsatz und nimmt das mündliche Vorbereiten auf Übersetzungsstücke eher noch zu, acht Aufsätze im Jahre, jeder im Durchschnitt mit dem Einschreiben zu nur acht Arbeitsstunden und seine Besprechung in der Schule zu nur einer Stunde gerechnet, macht bis zum letzten Semester in Prima allein 8.9.2'Z 180 Stunden, dazu abermals
5.40.2 Hst 300 Stunden ans! Die schriftlichen und mündlichen Übungen in den klassischen Sprachen von Sexta bis zur Abgangsprüfnng verschlingen also ein Arbeitskapital von 360 st- 600 st- 180 st- 500 — 1040 Stunden, wovon in den unteren Klassen etwa von dem Anteil zwei drittel, in den mittleren und oberen ein halb auf Unterrichtsstunden entfallen. Die Zahl ist natürlich sehr wenig genau, aber sie ist eher zu niedrig als im geringsten zu hoch. Auch weiß ich sehr wohl, daß auf einigen Schulen von Prima an, nachdem in Ober- Sekunda die für das Abiturientenexamen, maßgebende griechische Übersetzung geschrieben ist, nur noch Übersetzungen aus dem Griechischen ins Deutsche, wozu also keine häusliche Vorbereitung möglich ist, angefertigt werden; indessen ist dies keineswegs auf allen Schulen so, wie ich selbst erfahren habe. Sagen wir nur, von jenen 1640 Stunden gingen 900—1000 dem Unterricht verloren, so bedeutet dies drei Viertel Schuljahr, die Woche zu dreißig Stunden gerechnet. Und drei Viertel Jahr zu täglich drei Stunden verliert der Schüler mit seiner Vorbereitung! und zwar, wenn er alle Klassen mio anno durchläuft! Welch ungeheure grammatische Kenntnis und Sicherheit ließe sich mit jenen 1000 Unterrichtsstunden sonst erzielen, welch ungeheuren Nutzen könnte der Schüler von den übrigen 700 Stunden für seine Gesundheit haben, wenn er auch nur die „größere Hälfte" davon verwenden könnte! Und wie unglaublich dürftig sind dagegen die beim Abgänge im Durchschnitt erreichten Erfolge! Wie ungesund im höchsten Grade solche Zustände sein müssen, giebt nicht bloß die Theorie an die Hand, sondern lehrt auch täglich die Erfahrung. lllino illao laerimao, hier ist die Wurzel für so viele vermeintliche und wirkliche „Ungerechtigkeiten" der Lehrer, für Verbitterungen, geistige Überbürdung, für so vieles Zurückbleiben, fieberhaftes Anstrengen und doch getäuschte Hoffnungen! Es ist klar, es bedarf einer von Grund auf neuen Gestaltung des altsprachlichen Unterrichts. Es ist schon oben angedeutet, welcher Art dieselbe zu sein hat; dazu bietet uns die jetzige Einrichtung des geschichtlichen Unterrichts die geeignetste Analogie. Das ganze Gebiet der alten und neueren Geschichte wird jetzt bekanntlich zweimal auf der Schule behandelt: das erste Mal bis einschließlich Ober-Tertia durchaus pragmatisch; hier liegt der Nachdruck auf dem was der Begebenheiten; das zweite Mal in den oberen Klassen entsprechend dem reiferen Verständnis des Schülers kausal, mit Betonung des warum der Geschehnisse. Diese Methode ist nicht zufällig, sondern psychologisch tief begründet; der jugendliche noch kindliche Geist ist völlig empirisch, es wäre verfehlt, ihm jetzt schon mehr von Dingen und Ereignissen zu sagen, als daß sie da sind bezüglich da waren. Der Jüngling jedoch fragt täglich mit reiferem Bewußtsein mehr und mehr nach dem Grunde der Erscheinungen, und der empfängt seinen wärmsten Dank, der ihm Anregungen zum Nachdenken der Eindrücke giebt. Sv liegt auch eine Zweiteilung des klassisch-sprachlichen Unterrichts in der
Natur des Schülers, die erste Stufe muß völlig Paradigmatisch sein und dem unmittelbaren Zweck, die Lektüre zu ermöglichen, dienen, die zweite Stufe muß den ursächlichen Zusammenhang der sprachlichen Erscheinungen, die Entwickelung der Sprach- gesetze an der Hand der Betrachtung der einzelnen Sprachlaute, Vokale und Konsonanten, und die Möglichkeit ihrer Gruppierung darlegen. Aber selbst eine derartige Betrachtung der lateinischen und griechischen Sprache würde, solange sie gesondert vorgenommen wird, nicht das Höchste leisten können. Die enge Verwandtschaft beider Zweige des indogermanischen Sprnch- stammes, für welche der Schüler schon geschichtlich sehr früh interessiert wird, legt es nahe, keine getrennten Grammatikstnn- den für die verschiedenen Sprachen, sondern allgemeine, beide in ihrem verschiedenen Aufbau und ihren Bildnngsmitteln vergleichende einzurichten. Also die Grnndzüge der Sprachvergleichung des Lateinischen und Griechischen sind es, welche nach unserer Ansicht die zweite Stufe der grammatischen Betrachtung bilden müssen. Wieweit im einzelnen diese in gesunder Weise zu gehen Hütten, muß natürlich vorläufig dahingestellt bleiben. Von Ober-Sekunda an müßten also nur noch allgemeine Grammatikstnnden vielleicht zweimal wöchentlich stattfinden. So wäre für das gründlichste Verständnis der grammatischen Seite der alten Sprachen Sorge getragen. Zugleich aber müßte eine schon von den untersten Klassen an sorgsam gepflegte, reichhaltige und immer eindringender gestaltete Lektüre das Sprachgefühl ansbilden. Und zwar müßte einerseits der Umfang der Lektüre schon von unten ans erheblich erweitert, andererseits aber auch ein tieferes Verständnis für die eigentümliche Ansdrucksweise und den Gedankeninhalt eines jeden Schriftstellers erzeugt werden. In dieser Beziehung sind wir ja, namentlich für das Griechische, jetzt schon sehr gut bestellt, Vorträge über die notwendige Geschichte und Mythologie, über Kultnrzustünde im Verein mit bildlichen oder gar plastischen Darstellungen geben der Lektüre einen trefflichen Hintergrund. Eins aber hat man trotz alledem bis heute noch gänzlich vernachlässigt, was doch in erster Linie, besonders für das Verständnis irgend eines philosophischen Schriftstellers wie Plato, ja selbst Cicero erforderlich ist: einen Grundriß der Geschichte der Philosophie. Ohne diesen aber bleibt erfahrungsgemäß das Verständnis des Schülers für Plato und Cicero, aber auch für die klassische Zeit der deutschen Litteratur, für Lessing, Schiller, Herder auf halbem Wege stehen. Die sogenannte „philosophische Propädeutik," wie sie in der Prima getrieben wird, umfaßte bekanntlich bisher die Logik und die Psychologie. Von der Logik aber steht fest, daß sie nur dem gelegentlich etwas nützen könne, der schon von Natur mit einem scharfen und richtigen Denken begabt, dieses durch praktische Übung zu gründlicher Sicherheit entwickelt hat, ihm kann die Theorie der logischen Gesetze gelegentlich dazu verhelfen, einen von ihm oder einem anderen schon begangenen Fehler zu entdecken. Die formale Logik schürft den Verstand nicht im allermindesten, schon Kant urteilt über diese in den Schulen gelehrte besondere Logik des Verstandes, daß sie eigentlich nach dem Gange der menschlichen Vernunft das späteste sei, wozu sie allererst gelange, wenn die Wissenschaft schon lange fertig sei und nur die letzte Hand zu ihrer Berichtigung und Vollkommenheit bedürfe. Daher sollte in der That jeder einsichtige Mensch die Logik erst zum Schlüsse seiner gesamten Univer- sitütsstudienzeit betreiben, je später, desto besser.
Bei einer derartigen Umgestaltung des altklassischen Gymnasialunterrichts muß natürlich auch die Ausbildung der Philologen auf der Universität eine sehr veränderte und, dürfen wir wohl sagen, sehr vertiefte werden. Zunächst füllt ja die „Fertigkeit im schriftlichen und mündlichen Gebrauche der lateinischen Sprache," sowie die „grammatische Korrektheit in Anwendung der griechischen Sprache" fort, sodann aber kann das grammatische Studium der Sprachen jetzt nicht mehr bloß darin bestehen, daß „eine jede derselben sowohl in ihrer Formenlehre als namentlich in ihrer Syntax in ihren Einzelheiten in bestimmte Gruppen verbunden und unterschieden in einen