Heft 
(1889) 29
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Deutschland.

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leichter, als die Brücke über die tiefe und schroffe Kluft zu schlagen, die vorläufig noch Gymnasium und Universität, Schü­ler und Studenten, den angeschmiedeten und den befreiten Geist trennt! Zunächst ist hervorzuhebcn, welch ungeheure Zeit­ersparnis durch den Fortfall der schriftlichen und mündlichen Übungen in der Schule und im häuslichen Arbeiten erreicht wird. Rechnen wir für Sexta, Quinta und Quarta nur wöchentlich drei Stunden, so ergiebt dies schon bei vierzig Schnl- wocheu in den drei Jahren 9.40.3 360 Stunden! Unter- Tertia, Ober-Tertia und Unter-Sekunda verwenden für La­teinisch mindestens wöchentlich vier, für Griechisch ein bis zwei Stunden, sagen wir zusammen nur fünf, so haben wir in diesen drei Jahren abermals 5.40.3 600 Stunden! Mit Ober- Sekunda beginnt der lateinische Aufsatz und nimmt das münd­liche Vorbereiten auf Übersetzungsstücke eher noch zu, acht Auf­sätze im Jahre, jeder im Durchschnitt mit dem Einschreiben zu nur acht Arbeitsstunden und seine Besprechung in der Schule zu nur einer Stunde gerechnet, macht bis zum letzten Semester in Prima allein 8.9.2'Z 180 Stunden, dazu abermals

5.40.2 Hst 300 Stunden ans! Die schriftlichen und münd­lichen Übungen in den klassischen Sprachen von Sexta bis zur Abgangsprüfnng verschlingen also ein Arbeitskapital von 360 st- 600 st- 180 st- 500 1040 Stunden, wovon in den unteren Klassen etwa von dem Anteil zwei drittel, in den mitt­leren und oberen ein halb auf Unterrichtsstunden entfallen. Die Zahl ist natürlich sehr wenig genau, aber sie ist eher zu niedrig als im geringsten zu hoch. Auch weiß ich sehr wohl, daß auf einigen Schulen von Prima an, nachdem in Ober- Sekunda die für das Abiturientenexamen, maßgebende griechische Übersetzung geschrieben ist, nur noch Übersetzungen aus dem Griechischen ins Deutsche, wozu also keine häusliche Vorberei­tung möglich ist, angefertigt werden; indessen ist dies keines­wegs auf allen Schulen so, wie ich selbst erfahren habe. Sagen wir nur, von jenen 1640 Stunden gingen 9001000 dem Unterricht verloren, so bedeutet dies drei Viertel Schul­jahr, die Woche zu dreißig Stunden gerechnet. Und drei Viertel Jahr zu täglich drei Stunden verliert der Schüler mit seiner Vorbereitung! und zwar, wenn er alle Klassen mio anno durchläuft! Welch ungeheure grammatische Kenntnis und Sicherheit ließe sich mit jenen 1000 Unterrichtsstunden sonst erzielen, welch ungeheuren Nutzen könnte der Schüler von den übrigen 700 Stunden für seine Gesundheit haben, wenn er auch nur diegrößere Hälfte" davon verwenden könnte! Und wie unglaublich dürftig sind dagegen die beim Abgänge im Durchschnitt erreichten Erfolge! Wie ungesund im höchsten Grade solche Zustände sein müssen, giebt nicht bloß die Theorie an die Hand, sondern lehrt auch täglich die Erfahrung. lllino illao laerimao, hier ist die Wurzel für so viele vermeintliche und wirklicheUngerechtigkeiten" der Lehrer, für Verbitterungen, geistige Überbürdung, für so vieles Zurückbleiben, fieberhaftes Anstrengen und doch getäuschte Hoffnungen! Es ist klar, es bedarf einer von Grund auf neuen Gestaltung des alt­sprachlichen Unterrichts. Es ist schon oben angedeutet, welcher Art dieselbe zu sein hat; dazu bietet uns die jetzige Ein­richtung des geschichtlichen Unterrichts die geeignetste Analogie. Das ganze Gebiet der alten und neueren Geschichte wird jetzt bekanntlich zweimal auf der Schule behandelt: das erste Mal bis einschließlich Ober-Tertia durchaus pragmatisch; hier liegt der Nachdruck auf dem was der Begebenheiten; das zweite Mal in den oberen Klassen entsprechend dem reiferen Ver­ständnis des Schülers kausal, mit Betonung des warum der Geschehnisse. Diese Methode ist nicht zufällig, sondern psy­chologisch tief begründet; der jugendliche noch kindliche Geist ist völlig empirisch, es wäre verfehlt, ihm jetzt schon mehr von Dingen und Ereignissen zu sagen, als daß sie da sind bezüg­lich da waren. Der Jüngling jedoch fragt täglich mit reiferem Bewußtsein mehr und mehr nach dem Grunde der Erscheinun­gen, und der empfängt seinen wärmsten Dank, der ihm An­regungen zum Nachdenken der Eindrücke giebt. Sv liegt auch eine Zweiteilung des klassisch-sprachlichen Unterrichts in der

Natur des Schülers, die erste Stufe muß völlig Paradigmatisch sein und dem unmittelbaren Zweck, die Lektüre zu ermöglichen, dienen, die zweite Stufe muß den ursächlichen Zusammenhang der sprachlichen Erscheinungen, die Entwickelung der Sprach- gesetze an der Hand der Betrachtung der einzelnen Sprachlaute, Vokale und Konsonanten, und die Möglichkeit ihrer Gruppie­rung darlegen. Aber selbst eine derartige Betrachtung der la­teinischen und griechischen Sprache würde, solange sie geson­dert vorgenommen wird, nicht das Höchste leisten können. Die enge Verwandtschaft beider Zweige des indogermanischen Sprnch- stammes, für welche der Schüler schon geschichtlich sehr früh interessiert wird, legt es nahe, keine getrennten Grammatikstnn- den für die verschiedenen Sprachen, sondern allgemeine, beide in ihrem verschiedenen Aufbau und ihren Bildnngsmitteln ver­gleichende einzurichten. Also die Grnndzüge der Sprach­vergleichung des Lateinischen und Griechischen sind es, welche nach unserer Ansicht die zweite Stufe der gramma­tischen Betrachtung bilden müssen. Wieweit im einzelnen diese in gesunder Weise zu gehen Hütten, muß natürlich vorläufig dahingestellt bleiben. Von Ober-Sekunda an müßten also nur noch allgemeine Grammatikstnnden vielleicht zweimal wöchent­lich stattfinden. So wäre für das gründlichste Verständnis der grammatischen Seite der alten Sprachen Sorge getragen. Zugleich aber müßte eine schon von den untersten Klassen an sorgsam gepflegte, reichhaltige und immer eindringender gestaltete Lektüre das Sprachgefühl ansbilden. Und zwar müßte einer­seits der Umfang der Lektüre schon von unten ans erheblich erweitert, andererseits aber auch ein tieferes Verständnis für die eigentümliche Ansdrucksweise und den Gedankeninhalt eines jeden Schriftstellers erzeugt werden. In dieser Beziehung sind wir ja, namentlich für das Griechische, jetzt schon sehr gut be­stellt, Vorträge über die notwendige Geschichte und Mythologie, über Kultnrzustünde im Verein mit bildlichen oder gar pla­stischen Darstellungen geben der Lektüre einen trefflichen Hinter­grund. Eins aber hat man trotz alledem bis heute noch gänz­lich vernachlässigt, was doch in erster Linie, besonders für das Verständnis irgend eines philosophischen Schriftstellers wie Plato, ja selbst Cicero erforderlich ist: einen Grundriß der Geschichte der Philosophie. Ohne diesen aber bleibt er­fahrungsgemäß das Verständnis des Schülers für Plato und Cicero, aber auch für die klassische Zeit der deutschen Litteratur, für Lessing, Schiller, Herder auf halbem Wege stehen. Die sogenanntephilosophische Propädeutik," wie sie in der Prima getrieben wird, umfaßte bekanntlich bisher die Logik und die Psychologie. Von der Logik aber steht fest, daß sie nur dem gelegentlich etwas nützen könne, der schon von Natur mit einem scharfen und richtigen Denken begabt, dieses durch praktische Übung zu gründlicher Sicherheit entwickelt hat, ihm kann die Theorie der logischen Gesetze gelegentlich dazu verhelfen, einen von ihm oder einem anderen schon begangenen Fehler zu entdecken. Die formale Logik schürft den Verstand nicht im allermindesten, schon Kant urteilt über diese in den Schulen gelehrte besondere Logik des Verstandes, daß sie eigentlich nach dem Gange der menschlichen Vernunft das späteste sei, wozu sie allererst gelange, wenn die Wissenschaft schon lange fertig sei und nur die letzte Hand zu ihrer Berichtigung und Voll­kommenheit bedürfe. Daher sollte in der That jeder einsichtige Mensch die Logik erst zum Schlüsse seiner gesamten Univer- sitütsstudienzeit betreiben, je später, desto besser.

Bei einer derartigen Umgestaltung des altklassischen Gym­nasialunterrichts muß natürlich auch die Ausbildung der Phi­lologen auf der Universität eine sehr veränderte und, dürfen wir wohl sagen, sehr vertiefte werden. Zunächst füllt ja die Fertigkeit im schriftlichen und mündlichen Gebrauche der latei­nischen Sprache," sowie diegrammatische Korrektheit in An­wendung der griechischen Sprache" fort, sodann aber kann das grammatische Studium der Sprachen jetzt nicht mehr bloß darin bestehen, daßeine jede derselben sowohl in ihrer For­menlehre als namentlich in ihrer Syntax in ihren Einzelheiten in bestimmte Gruppen verbunden und unterschieden in einen