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Deutschland.
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ihren Sieg auf allen Gebieten des menschlichen Lebens und Denkens feierte. Auf lauterer Liebe zur Natur und zu den Menschen beruhend, strebte sie begeistert den höchsten Humanitären Zielen zu, ohne sich indes ans dem festen Boden der thatsüchlichen Verhältnisse zu halten; von der Theorie der natürlichen Gleichheit der Menschen ausgehend, zog sie in ihren Anschauungen und Plänen ebensowenig die gegebenen zwingenden Unterschiede in der Gegenwart, wie die geschichtliche Entwickelung der Vergangenheit in Betracht, und glaubte an einen Standpunkt der reinen, allgemeinen Vernünftigkeit, von dem aus nicht nur theoretisch richtige Schlüsse gezogen, sondern auch praktisch brauchbare, allgemein gültige Satzungen erlassen werden könnten.
Wie sonderbar mutet es uns an, diesen unbändig freien Geist, der nicht bloß gegen die wirklichen Mißbräuche zu Felde,, zieht, sondern nur zu geneigt ist, überhaupt alles historisch Überkommene, bloß weil es sich von der Natur entfernt, über Bord zu werfen und mit der Ordnung des Staats und der Gesellschaft ganz von vorn anzufangen — diesen revolutionären Geist in Rußland seine Fahne entfalten zu sehen! In demselben Rußland, welches noch heute, hundertzwanzig Jahre später, als ein Bollwerk gilt gegen alles, was Freiheit und Fortschritt, Duldung und Menschlichkeit, wahre Bildung und Erleuchtung heißt! Und diese Fahne nicht in der blutigen Faust nihilistischer Verschwörer, sondern in der geweihten Hand der autokratischen Monarchin selbst flattern zu sehen!
Jene Instruktion, die uns ein so merkwürdiges Schauspiel gewährt, ist in gespaltenen Kolumnen in russischer und deutscher Sprache gedruckt. In 525 Paragraphen, welche ihrerseits wieder in zwanzig Kapitel znsammengefaßt sind, behandelt sie in wirrem Durcheinander die verschiedensten Gebiete des Rechts und der Politik, der Gesellschaftslehre und der Volkswirtschaft, ohne indes zu irgend welcher Vollständigkeit zu gelangen. Form und Sprache sind durchaus lehrbnchmüßig, abstrakt; historische Beispiele von erstaunlicher Oberflächlichkeit nicht selten selbstgefällig eingeflickt. Fragen, welche noch heute als ungelöst Gegenstand erbitterten Streites sind, werden zahlreich berührt und fast durchweg im Sinne eines radikalen Fortschritts beantwortet; von einer Anknüpfung an den bestehenden Rechts- znstand oder auch nur einem Hinweis ans denselben ist nirgends die Rede. .
Nach einer kurzen religiösen Einleitung beginnt die Instruktion mit der bedeutsamen Darlegung, daß Rußland eine europäische Macht sei, für welche die anto kratische Monarchie die einzig mögliche und nützliche Regierungsform bilde. Jenes wird aus der Geneigtheit bewiesen, mit welcher das russische Volk die von Peter dem Großen eingeführten europäischen Sitten und Gebräuche angenommen habe; dieses aus der „Weitläufigkeit" des Reiches, in welchem „die Geschwindigkeit in der Entscheidung der Sachen, die aus fernen Orten einlaufen, die Langsamkeit ersetzen muß, die ans dieser weiten Entfernung entstehet;" und aus der allgemeinen inneren Vorzüglichkeit unumschränkter Regierungen, deren „Augenmerk der Ruhm der Bürger, des Staats und des Beherrschers, deren Endzweck es ist, nicht die Menschen ihrer natürlichen Freiheit zu berauben, sondern ihre Handlungen zur Erhaltung der höchsten Glückseligkeit einzuleiten."
Es folgen Ausführungen über die Sicherheit der Reichs- verfassung, die Bedeutung des Senats und der Gerichte, den Zustand der Einwohner, insbesondere Freiheit und Gleichheit derselben, und über die Gesetze im allgemeinen. Sehr schön klingt es, zumal für Rußland, wenn verlangt wird, daß die Bürger „sämtlich einerlei Gesetzen unterworfen sind," die „den Reichen verwehren ... die Würden und Ämter, die ihnen nur als obrigkeitlichen Personen anvertraut sind, zu ihrem eigenen Vorteile anzuwenden;" recht merkwürdig hingegen sind folgende Behauptungen: „Die Gebräuche regieren die Chinesen." — „Die Gesetze martern die Japanesen." — „Die Sitten gaben ehemals den Ton zu Lacedümon." — „Staatsregeln und alte Sitten thaten ein Gleiches zu Rom." „Die Red
lichkeit der Spanier ist von jeher berühmt gewesen." — „Die Chinesen besitzen eine so unmäßige Begierde znm Gewinnste, daß keine handelnde Nation ihnen trauen kann." — „Was durch Gesetze eingeführt worden, muß durch Gesetze, und was die Gebräuche in Schwang gebracht, durch Gebräuche verbessert werdeu. Es ist eine sehr schlechte Politik, die das durch Gesetze verändern will, was durch Gebräuche verändert werden muß."
Die nächsten Kapitel beschäftigen sich im wesentlichen mit den Aufgaben der Gerichtsverfassung, des Strafrechts und des Strafprozesses und zwar in der Weise, daß einige allgemeine Grundsätze vorweg zusammengestellt sind und demnächst die wichtigsten Fragen noch einmal im einzelnen durchgesprochen werden. Hier finden sich der interessanten Gesichtspunkte genug.
Die Unabhängigkeit der Gerichte wird grundsätzlich anerkannt. Aber die Auslegung der Gesetze soll nicht dem Richter, sondern dem Gesetzgeber, dem Landesherrn, znstehen. „Nichts ist gefährlicher, als wenn insgemein gesagt wird: man muß auf den Sinn des Gesetzes sehen und nicht ans die Worte. Dieses bedeutet nichts anderes, als den Damm durchbrechen, der dem schnellen Laufe der menschlichen Meinungen entgegenstehet." Die Folgen einer Freigebung der Gesetzesiuterpretation, Willkür, Unsicherheit und Verschiedenheit der Wahrsprüche, seien unvergleichlich schlimmer als die für den Gesetzgeber im entgegengesetzten Fall sich ergebende Notwendigkeit, „in Worten des Gesetzes, die einen doppelten Verstand leiden, kleine und nötige Veränderungen zu machen." Wenn aber „das Recht, das Gesetz zu erklären, ein Übel ist, so ist es nicht minder ein Übel, wenn die Gesetze so undeutlich sind, daß sie einer Erklärung bedürfen. Noch schlimmer ist es, wenn sie in einer dem Volke unbekannten Sprache geschrieben sind, oder wenn unbekannte Ausdrücke darin angetrofsen werden. Die Gesetze müssen in der gemeinen Sprache geschrieben sein; und ein Gesetzbuch, das alle Gesetze in sich enthält, muß ein mittelmäßig großes Buch sein, das man wie einen Katechismus für einen geringen Preis kaufen kann ... Je mehr Menschen das Gesetzbuch lesen und verstehen werden, desto weniger werden der Verbrechen sein. Deswegen muß man befehlen, daß in allen Schulen die Kinder dergestalt im Lesen unterrichtet werden, daß wechselweise Kirchenbücher und Bücher, die von den Gesetzen handeln, gebraucht werden."
Hingegen soll das Verfahren kein zu einfaches und summarisches sein; denn „die Gerichtsformalitäten vermehren sich nach dem Maße der Achtung, in welchem die Ehre, die Güter, das Leben und die Freiheit der Bürger stehen. Man muß den Beklagten hören . . . damit er sich verteidigen könne; er muß solches entweder selbst thnn oder jemand zu seiner Verteidigung wählen." Das Verfahren soll öffentlich sein; und „Personen, über die großer Verbrechen wegen Gericht gehalten werden soll, müssen mit Einstimmung der Gesetze sich ihre Richter wählen oder wenigstens aus der Zahl derselben so viel verwerfen können, daß es scheine, die übrigen seien mit Übereinstimmung des Verbrechers im Gerichte geblieben. Desgleichen sollten billig etliche der Richter mit dem Beklagten einerlei Standes, d. i. seinesgleichen sein . . . Man hat schon hiervon Beispiele in den Kriegsgerichten . . . Wenn aber das Verbrechen zum Nachteile eines Dritten gereicht: so müssen die Hälfte der Richter von dem Stande des Beklagten und die andere Hälfte von dem Stande des Beleidigten genommen werden." Hiermit sind die Grundzüge der Schwurgerichts- Verfassung gegeben.
„Eine ganz unnütze Sache ist es für den Regenten in souveränen Staaten, wenn zuweilen besondere Richter angeordnet werden, um jemand der Unterthanen zu richten. Solche außerordentlich bestellte Richter müssen sehr tugendhafte und gerechte Leute sein, damit sie nicht etwa glauben, daß sie sich allemal mit ihren erhaltenen Befehlen, mit dem etwa darunter verborgenen Nutzen des Reichs, mit der in Ansehung ihrer Personen geschehenen Wahl und mit ihrer eigenen Furcht recht-