Heft 
(1889) 31
Seite
523
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Deutschland.

Seite 523.

Liebe, Gute! Rette es! Hilf!"

Was kann ich thun? Soll ich mein Lied singen? Willst Du ihm ein Kraut kochen? Wenn Du es verlangst, ich will es thun."

Russandra, es ist also zu spät!" schrie die Mutter auf.

Sei still! Wir können nichts wissen. In Gottes Hand liegt es!"

Sie blickte auf die arme Mutter, welche wie zerschmettert, wortlos auf den Knieen vor dem Bette lag: was für ein hüb­sches, blondes Weib das war, wie sauber und nett. Und wie reinlich sie alles hält: die Gardinen, die Polster, die Tischdecke; fast peinlicher als sie selbst, und sie war doch von Beruf Wäscherin. Aber dort am Tische, wie sie genauer hinsnh, war das Tuch schon geflickt und von den Kelchgläsern fehlten einige; jener rot und blau bemalte Koffer, welcher den Linnenschrein ersetzte, wie alt und abgeschossen sah er aus . . . Ja, da ging alles abwärts . . . Sie hatte einen Blick dafür und Menschen­kenntnis, sie erriet ja, sie erriet, was der Mann wert war. Sie fuhr mit der Hand über das schneeige Leintuch, auf dem sie saß, und sagte zerstreut:Wie schön Du bügelst! Du könn­test, wie ich, Wäscherin werden, und noch besser die feinsten Häuser würdest Du haben."

Anika hatte krampfhaft das Kattunkleid der Wäscherin er­faßt:Russandra, besprich es! Liebe, Teure! Sei gut, hilf mir!" und dann setzte sie traurig hinzu:Willst Du nicht?"

Ja," sagte Russandra,ich will wenn Du nur be­greifen, nur ein wenig verstehen wolltest ... In Gottes Hand steht es . . . und dann, glaubst Du nicht, daß es drüben . . . bei Gott . . . besser aufgehoben ist als hier?"

Anika sah sie an; eine Thräne drängte sich ans ihren Augen.Mein Kind!" erwiderte sie,ich will mein Kind!" Sie biß die Zähne trotzig auf die Unterlippe.

Sei still!" schrie das Weib heftig und suchte ihre innere Bewegung niederzukümpfen,es ist nicht mit anzusehen." Und dann murmelte sie unverständlich:Wenn die Menschen in ihrem Elende trotzen, dann fühlt man erst recht, daß niemand sie hört . . . ah, niemand!"

Russandra hatte sich erhoben. Sie ließ brennende Lichter hereinbringeu und ein Wasserbecken, und ans ihrem Busen nahm sie ein betäubend duftendes Kraut, sprach darüber geheimnis­volle Sprüche, tauchte das Kraut in das Wasser und das Kind bespritzend sang sie leise dazu. Und dies alles geschah in so seltsam feierlicher Weise, so rätselhaft ernst und für die arme Mutter so überzeugungskrüstig. Aber als das Weib zu Ende war, schüttelte es den Kopf und sagte wie jemand, der überdrüssig ist:Nein, nein, es ist vergebens."

Anika zuckte zusammen:So ist es denn ans . . . alles . . . Kind und Mann."

Und Mann?" fragte Russandra.

Eine Röte übergoß das Gesicht der jungen Frau. Sie suchte ihre Verwirrung zu verbergen; aber ihr Leid brach her­aus; sie flüsterte:O, wenn Du wüßtest, wie unglücklich ich bin."

Russandra zog die Augenbrauen finster zusammen:Ah!... So einen Mann! Ich . - - ich hätte mit ihm glücklich gelebt."

O, Du kennst ihn nicht."

Ein feines Lächeln schwebte um die Mundwinkel Russan- dras:Ich ... ich glaube ... ich hätte ihn geprügelt!"

Die junge Frau sah bestürzt auf das starke Weib, dann ließ sie den Kopf sinken. Jetzt war alles, alles verloren; ihre Stütze brach zusammen: das Kindesauge, das ihren Weg be­leuchtet, lag im Erlöschen. Und sie, wie gebrechlich kam sie sich vor, wie einsam, elend.

Da fühlte sie plötzlich den Arm Russandras um ihre Schulter, und ein warmer Kuß brannte auf ihrer Stirn: Wenn Du Hilfe und Rat brauchst, komme zu mir. Wir wollen zusammen arbeiten und uns durchs Leben schlagen." So weich und wohllautend klang die sonst harte Stimme. Und wie im Traume verschwand die hohe Gestalt durch die offene Thür und tauchte ins Dunkel der Nacht.

Anika war allein. Um sie bange Stille. Bon der Straße hörte man nur leise Geräusche. Das schlummernde Leben der Stadt murmelte aus der Ferne wie ein schläfriges Bächlein, das sich tagsüber müde gelaufen.

Anika nahm ein Licht und beugte sich über das Kind. Was war das? Regungslos? Sie näherte ihr Ohr dem kleinen Munde: kein Atem! Sie horchte schärfer: kein Hauch! Die großen Äuglein standen weit offen und waren trüb.

Ein leiser Schrei entfuhr der unglücklichen Mutter. Ein Schauer floß durch ihren Leib: tot! ... tot! ... tot? Sie starrte auf das Kind. Vor ihrem Geiste lagerte etwas Graues, wie ein Spinngewebe, nur so mit der Hand wegzustreichen. Tot! Sie konnte es nicht verstehen. Lag's nicht hier vor ihren Augen mit seinem Gesichtchen und den winzigen Glie­dern . . . und doch fürs Grab ... für die Erde . . . und doch hier, hier greifbar, faßbar, zum Küssen . . . Nein, nein, sie begann wahnsinnig zu werden, sie verstand sich nicht mehr.

Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen, lehnte die Arme auf den Tisch und starrte ins Licht. Es war still, so still ... so leer, wie ihr ganzes Dasein so leer ... So war es also vorbei . . . Dinu? richtig Dinu! Sie lachte bitter. Also alles wiederum wie früher. Alles ganz so wieder! ... Er gleichgültig, rücksichtslos, sie voll Liebe und Aufopferung! . . . O, diese Geduld, diese jahrelange Geduld! . . . Und wo war er jetzt? O, sie wußte es nur zu gut; sie sah ihn im Geiste in der Schenke sitzen, die Stube mit seinem Lärm erfüllend, den Wirt bespöttelnd, die Gäste herausfordernd, die Lauten­spieler beschimpfend und dabei alle großmütig bewirten . . . Heute war ja Zahltag! . . . Und er wird keinen Heller mehr nach Hause bringen . . . und morgen werden sie alle mit ihren Rechnungen kommen. Der Bäcker mit seinem unausstehlichen Lächeln, der keinen Schritt weichen will, der unverschämte Metz­ger, der Spezereihändler . . . und so die Leute von Tag zu Tag vertrösten ... O, diese Demütigungen, dieses Erröten bei jeder Lüge, dieses Schämen vor sich selbst . .. Ihre kleine Mitgift war schon verschlungen . . . ihm in den Mund ge­stopft, wenn er fluchte und tobte . . . um einen freundlichen Blick von ihm zu erhaschen . . . War sie dumm gewesen! Sie hätte sich peitschen mögen . . . Wo war denn ihr Stolz ge wesen, ihr Frauenstolz . . . Bah, haben denn Frauen Stolz; nur Männer sind stolz und manchmal unverschämt . . .

Plötzlich fiel ihr das Kind ein. Sie raffte sich auf, warf sich über das Lager; die Finger krampften sich in die Kissen; man hörte nur ein leises Wimmern. Sie berührte das Ge­sichtchen mit den Lippen, nur sachte, ihm nicht weh zu thun, und doch war es fühllos.