.W 37.
Deutschland.
Seite 613.
eines Verbrechens unmöglich gemacht, aber die Bauern schützen sich wenigstens vor diesen Er'pressnngsabgaben. In Jenisseisk wollten mehrere Bauern ihre Weizenernte auf einer Barke über den unteren Jenissei nach dem nördlichen Teile der Provinz, wo kein Weizen wächst, hinschasfen, um ihn dort vorteilhaft zu verkaufen. Nun befindet sich in jedem Dorfe ein Spekulant, „Kulak" sgeballte Faust) genannt. Der Polizeibeamte verbietet den Bauern unter irgend einem Vorwand das Fortschaffen des Weizens, den sie nun zu jedem Preise an den Kulak losschlagen müssen.^ Dieser führt nun das billig erstandene Getreide den Jenissei herunter und teilt seinen großen Raub mit dem Polizisten. Doch wenn sich auch, wie die Petersburger „Vaterländischen Annalen" mitteilten, der Jspravnik in Jenisseisk rühmte, daß ihm die Bauern seines Distrikts jährlich 20000 Rubel eintragen — das ist doch immer nur der Kleinbetrieb kleiner Beamten. Zu wirklich großen Resultaten bringen es nur die großen Beamten. Da sind im Bezirk von Nertschinsky Zarod zwei dem Zaren gehörige Goldminen; die Ingenieure des Zaren erklärten sie für wertlos und verkauften sie billig an Privatpersonen. Diesen haben dann die wertlosen Minen etwas über 27000 Pfund reines Gold eingebracht . . .
Der schleppende Bnreankratismus und die Gleichgültigkeit in Petersburg, die Geldgier und die vollständige Autokratie der Beamten, verbunden mit einer brutalen Freude an Gewalt- thätigkeit und Grausamkeit — sie sind es, die für die politischen Gefangenen Sibiriens jenen Zustand geschaffen haben, den selbst Annschin, der gleichfalls mehrere Verschärfungen in der Behandlung der Gefangenen herbeigeführt hat, „unerträglich" nennt. Und doch hat die Geldgier der Beamten mitunter noch ihr Gutes, sie erleichtert den Gefangenen die Flucht. Die Beamten verheimlichen die Flucht der Gefangenen oft monatelang, nehmen die für jene bestimmten Kleider und Rationen in Empfang und verkaufen sie wieder an die Lieferanten, die dann wiederum der Regierung zu hohen Preisen das Mehl und die Kleider verkaufen, die die Beamten gestohlen haben. Freilich werden die Entflohenen immer wieder in den unwegsamen Gegenden gefangen, aber sie genießen doch zwei, drei Monate wenigstens die frische, reine Luft der Gebirge, Wälder und Steppen. Und deshalb entfliehen alljährlich, wenn der Sommer anbricht und der Kuckuck das Zeichen giebt, wohl gegen 30000 Gefangene und stellen sich, wie sie es nennen, unter den Befehl des „General Kuckuck." Es hat etwas ungemein Rührendes, wie in jedem Sommer diese Tausende elender Leute die Entbehrungen des Landstreicherlebens ans sich nehmen. Sie wissen, daß sie nicht entkommen, daß sie nach ihrer Ge- fnngennehmnng bestraft werden und noch größere Qualen als bisher ertragen müssen, aber es treibt sie mit nnbezwinglicher Gewalt hinaus in die weiten Steppen, in die Wälder, in den kurzen Traum von Freiheit! Ziehen doch viele der unglücklichen politischen Gefangenen es vor, sich den Tod zu geben, als länger noch das entsetzliche Elend des Gefüngnislebens zu ertragen. Die Geschichte des politischen Gefängnisses zu Kara liefert dafür überreich Beweise.
George Kennnn hat unter eigenen Gefahren über dieses Gefängnis' und die Karaminen sich Aufschluß verschafft. In dem kleinen, mit grob gezimmerter .Holzdecke und Bohlenwänden versehenen Zimmer des Fräulein Armfeldt hatte er einige „Staatsverbrecher" um sich versammelt. Die Dame, Tochter eines bekannten russischen Generals, war 1879 zu Kiew, da sie der Versammlung einer revolutionären Geheimgesellschaft beiwohnte, verhaftet und alsbald zu vierzehn Jahren Zwangsarbeit mit Beraubung aller bürgerlichen Rechte und zur Verbannung ans Lebenszeit nach Sibirien verurteilt worden. Als Kennan sie anfsuchte, hatte sie ihre Probezeit im Gefängnisse bereits absolviert und lebte mit ihrer mehr als sechzigjührigen Mutter, die freiwillig das Los der Tochter teilte, im „freien Kommando." In einer Nacht war es gelungen, die Wachsamkeit der Beamten zu täuschen; alle Politischen des freien Kommandos versammelten sich in Fräulein Armfeldts Häuschen. Kennan erzählt: „Man vernahm ein leises Klopfen an den
Fensterläden, Fräulein Armfeldt ging vorsichtig an die Thüre, fragte wer da sei, und wenn es einer ihrer Leidensgefährten war, öffnete sie und ließ denselben herein. Die kleine, matt- erleuchtete Hütte, das beklommene Schweigen voll Angst und Besorgnis, das geheimnisvolle Klopfen an den Fensterläden, dann die leise, aber eifrige Unterhaltung, die Gruppe blasser Männer und Frauen, die mich mit so erstauntem Interesse betrachteten, als wenn ich von den Toten auferstanden, alles das machte mir den Eindruck, als ob ich in einem phantastischen Traume befangen wäre. Nichts in der ganzen Umgebung erinnerte an die Alltngswelt da draußen, und als die Sträflinge anfingen, mir schaurige Geschichten von Grausamkeit, Leiden, Wahnsinn und Selbstmord zu erzählen, dünkte mich fast, ich wäre durch die dunkle Pforte geschritten, über deren Eingang Dante die drohende Warnung gelesen: „Laßt, die ihr eingeht, alle Hoffnung schwinden."
Was Kennan in dieser Umgebung, oft von den Einreden eines Wahnsinnigen unterbrochen, gehört hat, ist von ihm dann sorgfältig geprüft worden; er erzählt nur, wofür er aus offiziellen Quellen Bestätigung gefunden hat. Nach dem geheimen Bericht des Generalgouverneur Annschin an den Zaren befanden sich in Ostsibirien Anfang 1882 vierhundertdreißig Staatsverbrecher, darunter zweihnndertsiebzehn nicht kraft eines Richtersprnchs, sondern einfach ans administrativem Wege Verschickte. Zn derselben Zeit verständigte sich Annschin mit dem Ministerium des Innern dahin, daß die Wahnsinnigen von den anderen Gefangenen getrennt werden sollten — 3Hz Jahr später fand Kennan im Gefängnis zu Kara die gebildeten politischen Gefangenen trotzdem noch immer in einer Zelle mit den wahnsinnig gewordenen. Bald nach Anuschins Bericht machten einige der Staatsverbrecher einen Fluchtversuch aus dem Gefängnis zu Kara. - Sie höhlten einen Tunnel unter der Gefüngnismaner ans und versteckten sich nachts in der Werkstätte, in der sie tagüber gearbeitet, um weitere Vorkehrungen zu treffen. Die abends visitierenden Beamten wurden durch große, ans Lumpen hergestellte Puppen, die der Wand zngekehrt auf den Pritschen lagen, getäuscht. Schon waren acht Gefangene entkommen, da fiel ein Flüchtling beim Abspringen von der Mauer ins Wasser. Die Schil'dwache schlug Lärm, man untersuchte das Gefängnis und hatte nach einiger Zeit die erschöpften, durch das Gefüngnisleben kraftlosen Flüchtlinge wieder eingebracht. Dieser Fluchtversuch führte zu einer strengeren Behandlung der Politischen, man trennte sie und steckte sie unter die gemeinen Verbrecher. Doch der Gouverneur und der oberste Gefüngnisverwalter begnügten sich damit nicht. Sie zogen sechs Sotnias Kosaken zusammen und ließen diese nachts das Gefängnis erstürmen, die Politischen von ihren Pritschen reißen, durchsuchen und ihres Eigentums berauben. Dann wurden sie in den Hof geschleift. Empört über diese Mißhandlungen, setzten sich einige Politische zur Wehr, sie wurden mit Flintenkolben niedergeschlagen. Die übrigen wurden blutend, frierend und hungernd, fast nackt, einige an einen Schiebkarren gefesselt, fünfzehn Werst nach anderen Gefängnissen fortgeführt. Sie können nicht vorwärts, da treiben sie die Kosaken mit den Bajonetten weiter. Zerschlagen und verschmachtet erreichen sie das Gefängnis und werden je zwei und zwei in die dunklen schmutzigen, senchtkalten Geheimzellen des Zuchthauses gesteckt, in jene Zellen, die zum Stehen nicht hoch, znm Liegen nicht lang genug sind. So endete der „Aufstand der schlafenden Gefangenen," von denen dann in den Geheimzellen mehrere am Skorbut starben. Der vereitelte Fluchtversuch hatte auch für das Franengefängnis in Ust-Kara üble Folgen. Bis dahin war es Gebrauch, daß die Frauen ihre eigenen Kleider trugen. Der Kommandant, Major Khal- turin, zwang die Frauen, die Gefängnistracht anznlegen. Dabei kam es zu Scenen von solcher Brutalität, daß eine der Frauen aus Scham und Verzweiflung einen Selbstmordversuch machte. Den Frauen, die freiwillig aus Rußland nach Kara gekommen waren, um in der Nähe ihrer Gatter: zu sein, wurde verboten, ihre Männer wie bisher einmal wöchentlich zu be-