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Deutschland
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Garborg stammt aus einem alten, guten Banerngeschlecht. Die Generation vor ihm litt an Nervosität und Schwermut. Bei seinem Vater fand diese krankhafte Disposition ihren Höhepunkt in einer Religiosität, die an Wahnsinn grenzte; in späteren Jahren wnrde er auch wirklich krank an Leib und Seele. Eine Folge davon war, daß Gnrborgs Erziehung nicht besonders rationell anssiel; er wurde an Einsamkeit und Jnsichgekehrtheit gewöhnt. Darin kann man die Erklärung des nervösen und sensiblen Temperaments an einem Mann finden, der ja im übrigen ein lloino novrm der Kultur ist.
Unter Garborgs geistigen Voraussetzungen war also die pietistische Religiosität mit der dunklen und strengen Färbung, die ihr in dem kleinen abgeschlossenen Gebirgsland eigentümlich ist, die erste und stärkste. Garborg wurde an das orthodoxe Christentum gebunden, das er gleichzeitig hassen lernte. Hierzu kam später, ungefähr seit dem Konfirmationsalter, un- zusammenhängende Lektüre dänischer und neunvrdischer Romantiker, gleichzeitig mit den Eindrücken des Grundtvigianismns leine nach ihrem Begründer, Bischof Grundtvig, benannte Strömung im dänischen Kulturleben, deren charakteristisches Bestreben darauf ansging - in Kultur und Politik — eine demokratische Herrschaft ans der Basis des Christentums zu errichten). Garborgs Entwickelung wnrde auf Grund dieser Voraussetzungen die gewöhnliche innerhalb der skandinavischen Nachromantik. Als ein ehrlich suchender und spannkrüftiger Geist kämpfte er sich durch viele Jugendkonflikte: romantisch- ästhetischen Unglauben, romantisch-ethische Versuche zur Wiedergewinnung des Glaubens, Auflösung des Ganzen in Zweifel, bis er schließlich im Alter von siebennndzwanzig bis achtundzwanzig Jahren ans den nebelhaften Kümpfen der Romantik sich ans modernen Festlandsboden hinüberrettete.
Die Dichteranlage lind der Dichterdrang scheinen Garborg angeboren gewesen zu sein. Schon im Alter von nenn bis zehn Jahren sing er an zu schriftstellern; da er keine anderen Muster als Gesangbücher und Postillen hatte, schrieb er folglich Kirchenlieder und Predigten. Darauf kam eine Periode, in der er den Dichterheroen nachahmte, die Stadien ans seinem eigenen Wege zu sich selbst bezeichnten, Jngemann z. B., Öhlenschlüger, Björnson, Ibsen. Unterdessen bildete er sich zum Volksschnl- lehrer ans und legte 1870 das erforderliche Examen ab. Im Alter von zwanzig Jahren fing er die Herausgabe einer kleinen Zeitung an, die zunächst und im Grunde ein Schulblatt vorstellen sollte, aber eigentlich von vielen andern Dingen außer dem Schulwesen handelte. 1872 verschaffte er sich eine eigene Druckerei und vergeudete ein Stück Zeit als Fleckenredaktenr. Schon im nächsten Jahr aber war er alles dessen überdrüssig: mit zwanzig Kronen in der Tasche reiste er nach Christiania, um zu studieren — oder zu sterben. Es blieb beim studieren. 1875 trat er in eine der großen Christianiazeitnngen ein, 1877 sing er an das Dialektblatt „Lädraheimen" herauszngeben, in dem seine ersten Erzählungen erschienen; ein paar Jahr später bekam er Anstellung in der Staatsrevision, ein Posten, auf dem er verblieb, bis er als „mißliebiger" Schriftsteller auch dieses täglichen Brots beraubt wnrde.
Arne Garborg ist in erster Linie der Naturalist xnr ImMreuee in der nenskandinavischen Litteratnr, der echteste, der ausgeprägteste, der hervorragendste Naturalist. Naturalismus ist ein' dummes, ästhetisch-moralisches Schlagwort; in seinem Namen sind während der letzten zwanzig Jahre viele Siinden begangen worden. Daß ich es doch hier nnwende, beruht darauf, daß es besser als irgend ein anderes eine ganze Seite von Garborgs Wesen als Schriftsteller malt, znsammen- faßt und erschöpft. Wie ich das Wort Naturalismus auffasse, hat es nichts mit dem Stoff oder der Tendenz zu schaffen; es bezieht sich ausschließlich ans die Form und die Methode. Unter einem Naturalisten verstehe ich den Künstler, der das Hauptgewicht darauf legt, daß seine Produktion die Natur wiedergiebt, die ihn umgebende Welt — die seelische sowohl, wie die sichtbare — in ihrer größtmöglichen Reinheit, ohne subjektive Elemente hinein zu mengen. Dieser Thpus eines
objektiven Schilderers ist natürlicherweise nicht rein, ebenso wenig, wie der entgegengesetzte, der subjektive Typus; aber relativ genommen hat die Unterscheidung ihre Gültigkeit und Brauchbarkeit. Die brutale Gewaltsamkeit in Garborgs Schilderungen wird gerade dadurch so hoch gesteigert, daß es nicht eine einzelne, bestimmte Person — nicht der Verfasser — ist, die redet, geißelt, höhnt, droht, sondern daß es alle und niemand ist, das unfaßbare Wesen, das man das Leben, die Wirklichkeit nennt. In seinen Büchern regnen harte That- sachen wie Steine nieder. Wer dagegen protestieren will, kann sich nicht gegen den anflehnen, der das Buch geschrieben, sondern gegen die Wirklichkeit, von der das Buch ein Abbild ist. Das primäre Interesse in Garborg, sein innerer Sporn und das treibende Moment in ihm, beruhen nicht daranf, in der Dichtung, als in einer konkreten, lebendigen Schöpfung, die individuelle, subjektive Welt auszngestalten, die sich in ihm regt; was Garbvrg will, ist die äußere Wirklichkeit, das soziale Leben mit seiner ganzen, bunten, verwirrenden Mannigfaltigkeit so znrecht- znlegen, daß anderen zur Orientierung und zum Überblick verhaften werden kann.
Ganz und ausschließlich Naturalist, reiner Naturalist, wie sie einem in der modernen Litteratnr Frankreichs begegnen können, ist indessen Garborg doch nicht. Ein solches Phänomen dürfte ausschließlich gallisch sein. In Garborg, dem ausgeprägtesten Naturalisten des Nordens, hat der ruhige, überlegene Beobachter der Wirklichkeit nicht mehr, als den halben Menschen in Beschlag nehmen können. Die andere Hälfte gehört einem energischen, unerschütterlichen Streiter, der seine ganze Persönlichkeit und Existenz im Kampf um aktuelle Fragen, um die vielen Zankäpfel des Tages einsetzt. Gnr- borg ist Polemiker, Dialektiker, Satiriker. Er hat nicht bloß den klarsten Blick unter allen skandinavischen Schriftstellern, er hat auch den klarsten Kopf. Andere können weiter sehen und ihr intellektuelles Leben kann einen größeren Umfang haben, ebenso wie ihr affektives Leben eine größere Tiefe; Garborgs Gedanke ist scharf, wie sein Auge. Er hat alle die Probleme, die in seiner Heimat ans der Tagesordnung stehen, kritisch gesichtet, und er hat Position genommen. Die Welt der Prin
zipien und Ideen, in deren Getümmel er granitfest steht, wie ein Feuertnrm in Wind und Wellen, legt er für sich selbst und andere mit derselben Sicherheit zurecht, wie er das mit der Wirklichkeit gethan, in derem Chaos wir alle waten.
Und daher bieten Garborgs Arbeiten, wie sie die genauesten Berichte über norwegisches soziales Leben enthalten, die die neue Litteratnr eines Landes liefern kann, zugleich eine Mnster- karte aller der Strömungen, Interessen, Ideen und Bestrebungen, aus denen in einem bunten, wirren Knäuel das Kulturleben Norwegens in seinem letzten Stadium besteht. Und gleichzeitig enthalten sie die ganze Tonskala, die Garborg in seinem Leben durchlaufen.
Gnrborgs Bücher sind im Vollsdialekt geschrieben, einem kräftigen, metallischen Idiom, das etwas von der sonnenfunkelnden Klarheit und elastischen Leichtigkeit der norwegischen Ge- birgslnft besitzt und durch seine vielen Dichtungen an das Isländische erinnert. Garborgs Schriftstellerwirksamkeit ist dadurch zu einem bedeutsamen Übel fiir jene Bestrebungen geworden, die eine Zeitlang in erster Reihe ans dem Programm des jungen Norwegens standen: das Bestreben nämlich, dem Vaterlande seine eigene Sprache zu schaffen; ja, es ist vielleicht das schönste Denkmal, das diese Bestrebungen in der norwegischen Kultur hinterlassen werden.
Garborgs eigene Jugend war, wie erwähnt, erfüllt von religiösen Konflikten, und der lebens- und entwickelnngsfeind- liche Pietismus führt noch immer das große Wort in Norwegen, sowohl heute, wie morgen und übermorgen. Davon handelt Garborgs erster Roman: „Ein Freidenker."
Garborg war selbst ans kleinen Verhältnissen, aus den unteren Schichten des Volks hervorgegangen und fühlte sich als Fremdling in der Umgebung, in die sein Lebensweg ihn versetzte; dieselbe Zwiespältigkeit und dieselbe Kluft zwischen den