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Deutschland.
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beiden Centren des sozialen Lebens, der eingeborenen Bauernbevölkerung und der eingewanderten Bourgeoisie — einen Adel giebt es nicht im Lande — hat lange eine bedeutende Rolle im politischen Leben Norwegens gespielt; von dieser sozialen Eigentümlichkeit handelt Garborgs zweiter Roman: „Bauernstudenten."
Es giebt keine Frage, welche eifriger in der Generation junger Männer diskutiert wurde, mit der Garborg in Christiania znsammenkam, als die sexuelle, da es sich in ihr um das tiefste Leiden und Entbehren jener Generation handelte, ein Gebrechen, das die Jugend beständig ein Bedürfnis hatte zu berühren, wie der Zahnkranke einen schmerzenden Zahn; davon handeln die beiden Romane: „Mannsleute" und „Bei Mama."*
Es giebt schließlich kein Ereignis, das nur annäherungsweise einen so schmerzvollen, so tiefgehenden, so verhängnisvollen, so produktiven Einfluß auf die tüchtigste Jugend Norwegens ausgeübt, wie die Verrüterei des ehemaligen, radikalen Parteichefs und Ministers der Linken, Johann Soerdrup; davon handelt Garborgs Schauspiel: „Die Unversöhnlichen."
II.
Über dem Vortrag in „Bauernstudenten" ruht eine eigentümliche, unbeschreibliche Beleuchtung und Stimmung. Es ist einem ungefähr zu Mute, als wandere man in einer Frühlingslandschaft. Der kühle, weißliche Farbenton des Winterhimmels scheint sich gleichsam zu erweichen zu einem warmen Blau, die Luft, die einen umgiebt, ist mild und die Ausdünstung des Hauenden Erdbodens hüllt alle Gegenstände wie in einen dichten blauen Nebel ein. Es wird einem warm ums Herz, man ist gut, bis in die innerste Seele hinein. Etwas hiermit Verwandtes fühlt man bei der Lektüre dieses Garborgschen Romans. Dieser Jämmerling, Daniel Brandt, der Held in den „Bauernstudenten," ist wie eingewickelt in den warmen, blauen Schleier des intimsten persönlichen Mitgefühls, und das Verständnis des Verfassers ist in dem Grade in alle Winkel und Ecken und bis auf den Grund dieses Charakters gedrungen, daß die Verurteilung uns auf den Lippen erstirbt als sinnlos, unwesentlich und unanwendbar. Dieses ganze Leben, das Garborg mit seinen Menschentypen und Verhältnissen, seinem Kampf und seinen Niederlagen, seinen Interessen und Konflikten schilderte, stand während der Schilderung vor dem Dichter als etwas in der Zeit Verflossenes und im Raume Entferntes, als etwas, was man hinter sich hat und was nun in dem verschönenden Lichte daliegt, in denn ein sensibles Temperament alles zu sehen pflegt, was mit reichen persönlichen Erinnerungen verknüpft ist, aber jetzt auch bloß Erinnerung ist. Auf diese Weise wird Daniel Brandt für den Leser zu einer Art Doppelmensch; hinter der flachen Vordergrundsfigur öffnen sich weite, träumende, an Möglichkeiten reiche Perspektiven, vor deren Hintergrund wir so ganz den früheren vergessen, als wäre er aus dem Rahmen gefallen.
„Mannsleute" wird von einem ganz anderen Ton getragen; der Übergang von „Bauernstudenten" zu dieser Erzählung ist schneidend. Die erstere ist eine Geschichte in NM1, die letztere eine Geschichte in Dur. Der Verfasser steht selbst in eigener Person, als Mensch und Mitglied der Gesellschaft, mitten in dem Leben, von dem er erzählt. Er behandelt Fragen, die täglich in sein Dasein Hineinspielen, die noch eine aktuelle Macht darstellen, durch die seine Zukunft bestimmt werden kann, die ihm, dem unerschrockenen und unerschütterlichen Streiter für seine Überzeugung, stündlich Wunden, Qual und Leiden eintragen. Darum liegt auf diesen Schilderungen ein Licht von fast verletzender Klarheit, dem ähnlich, mit welchem der beginnende Herbst die Leere und den Verfall der Natur beleuchtet. Der Verfasser behandelt diese Wirklichkeit, unter der er selbst so viel gelitten, wie ein Stück Zeug, das
* Für den großen Roman „Bei Mama" hat Arne Garbvrg jüngst ans Deutschland einen Ehrensold erhalten, der dem Dichter hoffentlich über eine unfreundliche Zeit hinweghelfen wird. D. Red.
er mit der scharfen, schonungslosen Säure seines Verstandes untersucht, — und das Zeug verliert seine Farbe und erweist sich als unecht. Ganz unten ans dem Grunde der Darstellung gewahrt man einen stillen, starken Unterstrom lyrischen Verständnisses, gleichsam einen warmen Golfstrom in einem Ocean kalter Wellen —; berührt er zuweilen die Oberfläche, so empfinden wir ihn wie einen salzigen Tröpfelt bitteren Pathos.
Im Schauspiel „Die Unversöhnlichen" ist der Grundton abermals ein anderer: Verdruß, Ingrimm, ein siedender Ingrimm, eine Empörung, deren Äußerungsform am besten dem Gestus zu vergleichen ist, mit dem ein heftig bewegter Mensch jeden Versuch aufgiebt, nuszudrücken, was in seiner Seele gärt. Aber so stark und echt ist diese Empörung, daß sie alle die losen Bruchstücke des Dramas zu einer einzigen, kompakten, einheitlichen Masse verbindet, wie der Eement die Bausteine. Der Mittelpunkt des Schauspiels ist das bekannte politische Ereignis in der neuesten Geschichte Norwegens: der Verrat, den der radikale Parteichef Soerdrup an all den Fortschrittsideen beging, die in einer langen Reihe von Jahren so innig mit seinem Namen verknüpft gewesen, daß diese Ideen und dieser Name in eins zusammen gewachsen waren für das junge Norwegen. Das Stück wirkt wie ein gegen die Stirn des Überläufers geschlenderter Stein; es geht nämlich darauf aus, zu beweisen, wie das verhängnisvolle Beispiel, das von dem Häuptling gegeben worden, die ganze Jugend nnsteckte, die unter seiner Führung gekämpft.
In der letzten Erzählung „Bei Mama," die sich noch unter der Presse befindet, enthüllt sich der ganze prägnante Naturalismus, der Garbvrg seine eigentümliche Stellung unter der Schriftstellerschar des jungen Norwegens verschafft hat. Er ist hier der reine Erzähler, nichts als Erzähler: ruhig, klar, scharfsichtig und scharfsinnig, ebenso voll von Bonmots, wie von Gefühl, zugleich schnell und gediegen, reich an Erfahrung aus verschiedenen Gesellschaftsschichten und verschiedenen Ideenwelten, einfach und unbestechlich, gerade, fest und sympathisch. Der Inhalt des Buches handelt von einem jungen Mädchen ans den norwegischen Mittelklassen: er ist eine ausführliche Darstellung seiner Kindheits- und Jugendgeschicke. Die Schilderung schließt sich so eng an das eigentliche Leben, daß man fast keinen Ünterschied zwischen dem Leben aus erster Hand und dem Leben ans zweiter Hand, das einem im Buch entgegentritt, merkt. Aber der Kenner weiß die große, bescheidene Kunst zu würdigen, die die verwirrende Mannigfaltigkeit des ersteren so zu sichten und zurechtznlegen verstand, daß die typischen, wesentlichen Züge hervortreten, ohne daß die lebendige Bewegung, die bloß durch das freie, natürliche Zusammenspiel der Einzelheiten hervorgebracht werden kann, dadurch beeinträchtigt wird.
Aus dem „Atelier für seelemnalerei."
Voir
Julius Iweunö.
ein grelles Plakat, kein amerikanisches Reklameschild reizt die Neugier des verehrungswürdigen Publikums stärker, als jene kleine bescheidene Tafel, auf welcher die bekannten Worte zu lesen sind: „Unbefugten ist der Eintritt strengstens verboten."
Man findet derartige Schildchen gewöhnlich auch vor den Bühneneingängen und ihre dämonische Wirkung auf die breite Masse des Volkes ist genugsam bekannt. Ich möchte behaupten, daß unzählige „kunstbegeisterte" junge Leute einzig und allein aus purer Neugier zum Theater gehen. — Denn nicht nur das Leben hinter den Coulissen, der Mechanismus der Bühne, wird profanen Blicken sorgsam entzogen, eine minder oberflächliche Neugier — der es mehr nur die Erkenntnis der geistigen Thätigkeit des Mimen zu thun ist,