Herz, bisher blind gewesen für diese Menetekel? Hat Fontane nicht auch uns, die Leser eines ganzen Jahrhunderts, mit dem Kirkestab seines perfiden Witzes in lauter Holks verwandelt? Weder die versagt gebliebene Ehe (Peter- sens Tochter/Kruse) noch die vorgegaukelte Ehe (Brigitte/Kapitän Nemo) noch die Scheinehe (Fräulein Bie/Pastor Schleppegrell) ist dem Publikum je ins Visier gekommen. Über Hansen junior wurde ratlos gemunkelt, aber Schleppegrell stand außer Verdacht, und Kruse fand man gar nicht erst. Elisabeth mußte immer als Sängerin schwermütiger Lieder, Brigitte als erotisierender Aperitif, Schleppegrell als Bilderkustode mit der Kienfackel, die Pastorin gar als Künderin ehelicher Weisheit durch die Szene spazieren. Nichts von alledem verlieh diesen Figuren eine ausreichende künstlerische Rechtfertigung. Hier hat das Leid der Verlegenheit, die ich eingangs meinte, seinen Ursprung. Die Interpretation warf sich mit großer Einseitigkeit auf Christine, die Hauptperson des Hintergrundschauplatzes Holkenäs, und da es menschlich ist, das, was man von einer Sache erkannt hat, irgendwann einmal auch für das Entscheidende zu halten, avancierte Christine von einer Hauptfigur des Romans, die sie unbestreitbar ist, zu der Hauptfigur schlechthin, was der Ehre zuviel war. Der große Mittelteil dagegen mit seiner überwiegend dänischen Kulisse, der Vordergrund, wie Jorgensen in richtiger Einschätzung sagt, schien, ein paar Briefe von Ufer zu Ufer abgerechnet, mit nicht mehr angefüllt zu sein als der zu breit geratenen Darstellung einer verhängnisvollen Entwicklung, mit Plaudereien und Anekdoten, mit, rundheraus gesagt, belanglosem Kram.
Fontane hat für die Verwirklichung seines Romankonzepts den riskanten Preis gezahlt, das Buch einer unvermeidlichen einstweiligen Verkennung anheimzuliefern, von der nicht einmal zu sagen war, ob sie nicht überhaupt in eine ewige Umschlägen und bis zum jüngsten Tag fortdauern werde. Denn unsere hundertjährige Blindheit ist natürlich kein Zufall, hier ist die Fügung des Autors am Werk gewesen. Es ist, als hätte er zu sich gesagt: „Bisher war es immer dem Leser überlassen, sich in die Lage des Helden zu versetzen, diesmal aber werde ich, der Erzähler, den Leser in die Lage des Helden versetzen. Wo dieser für ein Menetekel blind ist, sei es auch jener, wo dieser nur den Schneddredin hört, höre auch jener nur ihn, wo dieser sich als einen krassen Aristokraten verkennt, verkenne auch jener ihn als einen solchen." In welch beängstigendem Ausmaß ihm dieses Vorhaben geglückt ist, bedarf keiner Erörterung, ein Blick in die Fachliteratur sagt mehr als alle Worte. So hat denn auch bisher niemand wahrgenommen, auf wie originelle Art in „Unwiederbringlich" mit drei Perspektiven jongliert wird. Als Fontane mit der Arbeit an dem Roman begann, war die literaturtheoretische Diskussion in Deutschland ja noch beherrscht von der Spielhagenschen Doktrin, daß in jedem modernen Roman eine „approximative Kongruenz von Dichter und Helden" stattfinde 13. Wie um diese bombastisch formulierte, aber schlecht durchdachte Ansicht zu widerlegen, läßt Fontane den Erzähler, in den er geschlüpft ist, die Dinge stillschweigend anders sehen als den Protagonisten Holk. Doch nun erst kommt das Interessante! Der Leser nämlich wird nicht etwa eingeladen, auf der Betrachterbank des Erzählers Platz zu nehmen und gemeinsam mit diesem dem Protagonisten zuzuschauen; das hätte Fontane ja durchaus so fügen können, es wäre eine Abart des satirischen Romans dabei herausgekom-
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