Heft 
(1988) 45
Seite
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men. Vielmehr wird der Leser auf Holks Bank gesetzt und sieht mit Holks Augen in die Welt des Romans. Irgendwann soll ihm indes aufdämmem, daß er falsch sitzt, er soll aus eigenem Antrieb zur Bank des Erzählers hinüber­gehen und sich dort niedersetzen. Sein Textverständnis hängt nicht bloß davon ab, sondern es besteht recht eigentlich darin, daß er diesen kleinen Spazier­gang unternimmt.

Künftige Interpretationen werden sich der Frage widmen müssen, ob »Unwie­derbringlich" nicht allein schon um dieser Finesse willen als der modernste deutschsprachige Roman des 19. Jahrhunderts gelten muß. Es läßt sich nicht mit einer Handvoll Worte sagen, was alles hier erstmalig und wohl audi einmalig ist. Wo gäbe es denn sonst einen Roman deutscher Sprache, in dem das Textverständnis geradezu an die Auflage geknüpft ist, daß der Leser einen Perspektivenwechsel vollzieht, ohne daß ihm der Erzähler oder der Protagonist dabei das Geleit geben? Wo einen, bei dem man sich nicht in die Lage des Helden hinein-, sondern aus ihr hinausversetzen muß? Wo einen, in dem die Leserperspektive eine von der Erzählerperspektive so radikal abgetrennte Eigenbedeutung hätte? Selbst in der Poetik des 20. Jahrhunderts ist der point of view des Lesers gemeinhin nicht mehr als der nachvollzogene point of view des Erzählers, man bestimme diesen und kennt dann grosso modo jenen. Unter Perspektivwechsel ist nie etwas anderes verstanden worden als ein Mittel des Erzählens.Unwiederbringlich" konfrontiert uns mit dem Novum, diesen Begriff nun auf einen puren Rezeptionsvorgang übertragen zu müssen, auf etwas, was sich nicht im Text vollzieht, sondern in unserem Bewußtsein vollziehen soll. Was ein solcher Roman seinem Schöp­fer an leserpsychologischem Feingefühl abverlangt, kann der Außenstehende schwer ermessen. Fontane lotete das Was und Wie seiner Aufgabe offenbar mit eigenen praktischen Versuchen aus, und eines seiner ersten Versuchskaninchen scheint Julius Rodenberg gewesen zu sein.

Gibt es noch mehr Verstecklöcher in unserem Heuboden? Mag sein, aber nicht derselben Art. Es ist nämlich keine Ehe mehr übrig, an der irgendjemand seinen Scharfsinn jetzt noch wetzen könnte. Holks Ehe mit Christine ist die einzige Ehe des gesamten Buches, mitten in einem Lemurentanz von Zerr- und Gegenbildern der Ehe. Auch dies ist eine Kernidee des Romankonzepts, an der ein künftiger Interpretationsversuch wohl nicht wird vorübergehen dürfen. Natürlich ist hier die erste Ehe der Holks gemeint. Die zweite ist selber nur ein Zerrbild, eine Nicht-Ehe, ist gewissermaßen die Einreihung in den Lemu­rentanz, die Erfüllung seiner Prophezeiung. Das macht endlich auch verständ­lich, weshalb Fontane die dem Roman zugrundeliegende Fabel an einer wichtigen Stelle scheinbar ungünstig abänderte. Im Roman verstreichen zwischen der zweiten Trauung der Holks und Christines Selbstmord einige Monate. In der von Frau Brunnemann gelieferten Vorlage 1 '' 1 geht die Wieder­vermählte noch am Hochzeitstage selbst ins Wasser, und das ist vom drama­tischen Gesichtspunkt aus eigentlich das Überlegene, so daß es aussieht, als hätte Fontane den plot verwässert. Aber wenn er ihn unkorrigiert übernommen hätte, wäre aus der zweiten Verheiratung keine Nicht-Ehe hervorgegangen, sondern rein gar nichts. Die Prophezeiungen der Menetekel wären um jeden Sinn gebracht, dem Romankonzept selber wäre im letzten Moment die Spitze abgebrochen gewesen.

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