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Deutschland.
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Ebenso entspricht der Preis von zehn Pfennigen für einen „Kartenbrief" nicht dem Wert dieses Gegenstandes und der durch ihn in Anspruch genommenen Leistung. In diesem Punkte dürfte die deutsche Reichspostverwaltung der österreichischen gegenüber, welche den Satz von fünf Kreuzer für einen „Kartenbrief" erhebt, nicht als Nachahmerin austreten; denn wie schon der Name besagt, bildet doch dieses Schriftverkehrsmittel ein Zwischending zwischen dem eigentlichen Briefe und der Postkarte, würde also dieser seiner Stellung entsprechend auch mit einer zwischen den Portosätzen dieser beiden Briefarten liegenden Taxe zu belegen sein. Nehmen wir z. B. den Betrag von acht Pfennigen an, so würde allerdings ein neuer Wertstempel für den „Kartenbrief" zu schaffen sein, für diejenigen „Kartenbriefe" aber, welche im Wege der Privatindnstrie hergestellt und zur Beförderung durch die Post gebracht werden sollen, würde es — zur Vermeidung einer neuen Markengattung im Werte von acht Pfennigen — der Verwendung nur je einer Fünf- und einer Dreipfennigmarke bedürfen.
Durch die letzten Betrachtungen sind wir aber zum Teil schon an die Beantwortung der weiteren Frage gelangt: Wie stellt sich für die Postverwaltung das Ergebnis dieser Neuerung in finanzieller und betriebstechnischer Beziehung?
Von denjenigen Mitteilungen, welche gegenwärtig brieflich bewirkt werden, würden sich voraussichtlich nur wenige in Kartenbriefsendnngen verwandeln lassen; denn sowohl für die Geschäfts- als auch Familienbriefe ist im allgemeinen der von dem Kartenbriefformulare gebotene Raum zu gering; es würden von dieser Gattung brieflicher Mitteilungen nur die wenigen kurzen Nachrichten, welche ausschließlich der Geheimhaltung ihres Inhaltes wegen unter Verschluß versandt worden sind, sich für die neue Form eignen; dagegen läßt sich annehmen, daß der größte Teil der Orts- bezw. Stadtbriefe in dem neuen Gewände in die Erscheinung treten würde. Freilich müßte dieser Umschwung für Berlin, wo bekanntlich der Stadtbrief zehn Pfennige Porto kostet, einen nennenswerten Ausfall an Portoeinnnhmen nach sich ziehen, derselbe fände jedoch mindestens dadurch einen Ausgleich, daß in zahlreichen Füllen, — für deren selbst annähernde Schätzung allerdings augenblicklich keinerlei Anhalt geboten ist — in denen jetzt nicht allein im Orts-, sondern auch im Fernverkehr die Postkarte Verwendung findet, späterhin der besser ausgestattete Bruder Ersatz leisten würde.
Jedenfalls glaube ich annehmen zu dürfen, daß unter Anwendung des Portosatzes von acht Pfennigen für die Beförderung eines „Kartenbriefes" eine Portoeinnahme-Verschiebung nur zu Gunsten der Postkasse erwachsen würde; denn während das bei kurzen Mitteilungen unverhültnismüßige Briefporto gegenüber der wohlfeilen und bequemen Postkarte manch einem die letztere zur Benutzung empfiehlt, würde ganz besonders in dem schriftlichen, sehr lebhaften Familienverkehr der sogenannten besseren Stände der Kartenbrief gar bald in ausgiebiger Weise an die Stelle der Postkarte treten. Der Gewinn aber, den zwei an Stelle von Postkarten verwendete Kartenbriefe der Postknsse bringen, trügt schon den Verlust für drei in gleicher Weise ersetzte Briefe. Doch dürfte nach meinen! Dafürhalten selbst ein derartig ungünstiges Verhältnis, welches aber trotzdem noch die Höhe der Portoeinnahmen der Postkasse unverändert läßt, nicht einmal zu befürchten sein.
Für den Betrieb und die posttechnische Behandlung bietet schließlich der „Kartenbrief" — wie wir schon eingangs angedeutet haben — durch seine Gleichartigkeit in Form und Größe, sowie endlich — unter Zugrundelegung der in Österreich gebräuchlichen Formulare — durch seine das Gewicht unserer einfachen Postkarte nicht übersteigende Schwere dieselben einfachen und vorteilhaften Eigenschaften wie die Postkarte.
Das Gewissen und seine Ersatzmittel.
Von
Mcr.X WcuVkowskr).
I.
Sittenlehre ist ein Gebiet, ans dem die Teilnahme der Laien dem Eifer der Gelehrten auf halbem Wege entgegenkommt. Nicht jeder liebt es, zu
denken, aber alle wollen handeln, wissen, wie sie am besten handeln; wissen, welche Grenzen den Vorteil des Einzelnen von dem seines Nächsten trennen; wissen, ob es überhaupt solche Grenzen giebt. Die gute alte Zeit begnügte sich mit dein kategorischen Imperativ des Katechismus; da hieß es: Du sollst! und damit basta! — heute will jeder für alles Gründe haben und auch zum Guten nur mit Gründen überredet sein. Dennoch kann cs uns nicht einfallen, diesen Stand der Dinge als einen Übelstand zu empfinden oder zu beklagen. Der Mensch ist zwar kein vernünftiges, aber doch ein zur Vernunft veranlagtes Wesen, und will nach Ablauf einer gewissen Entwickelung sich selbst darüber Rechenschaft geben, was er bisher ans unbewußtem, ungewolltem Triebe gethan und gelassen hat. Solche Selbstüberlegung auf das eigene Handeln ist an sich ebensowenig beklagenswert, wie die schonungslose Verurteilung alter Meinungen, von deren Haltlosigkeit man sich irgendwie überzeugt hat; vorausgesetzt nur, daß dieser Abbruch wurmstichiger Stützeu der sittlichen Gesetzgebung nicht eher erfolgt, als bis bessere gefunden sind, welche denselben Zweck mit geringerem Aufwands und verstärkter Wirkung erfüllen. Dieser Aufgabe hat sich ein jüngst verstorbener französischer Dichter und Philosoph, Guyau, mit anerkennenswerter Treue und seltener Meisterschaft der Sprache unterzogen und eine Sittenlehre ans dem bloßen Stoffe der natürlichen Notwendigkeit aufzubauen versucht, die zur Not aller übersinnlichen Stützen entraten könnte, ohne solche gerade ansznschließen. ck'ui>6 inorrcko 8mi8 oftliAution ui 8un6tion.» Ourm, Tleun 1885. 8o.) So hat er unter anderem den Nachweis geliefert, daß die alte Auffassung von der Ewigkeit und Ünveründerlich- keit des Gewissens, oder besser gesagt, der Thatsache eines inneren Zwanges znm sittlichen Handeln, auf einem Irrtum beruht. Das Pflichtgefühl oder Gewissen, wie wir es jetzt noch kennen, ist im Schwinden begriffen und völligem Untergänge geweiht; es handelt sich nur noch darum, Ersatzmittel zu finden, welche seine alte Wirksamkeit zugleich beibehalten und verstärken.
Das Pflichtgefühl offenbart sich dem Menschen in Gestalt eines Antriebes znm Handeln oder Nichthandeln, dessen Quelle er nicht im eigenen Bewußtsein findet, sondern im unbewußten oder minderbewußten Geistesleben suchen muß. Ein berühmter amerikanischer Kanzelredner erzählte einst, wie er als Kind zuerst diese „Stimme des Gewissens" vernommen hatte. Er wollte gerade eine vorbeischwimmende Schildkröte mit seinem Stocke schlagen, wie er bei seinen Altersgenossen gesehen hatte; da fuhr es ihm wie ein Blitzstrahl durch das Hirn: „Das darfst du nicht, du darfst nicht schlagen!" — und er ließ das Tierchen unbehelligt ziehen. So zeigt sich das Pflichtgefühl in vielen Fällen als ein Hemmschuh, der einen Absturz in pflichtwidriges Handeln wirksam verhindert. Wir hatten neulich in Berlin ein Beispiel dieser Hemmung, als ein Hausdiener, den seine Lohnherren zum Meineide hatten verleiten wollen, vor Gericht einen sichtlichen Kampf mit seinem Gewissen durchfocht, der mit dem Siege des Pflichtgefühls und seinem offenen Geständnisse endete. Nicht minder wirksam erweist sich dieser innere Zwang auch als Antrieb zum sittlichen Handeln, und hier wirkt es, wie im Falle der Hemmung ohne und gegen jede Überlegung mit dem Ungestüm und der Schnelligkeit eines elektrischen Schlages. Ein Arbeiter fiel in einem Kalkofen ohnmächtig um und erstickte; ein zweiter sah ihn fallen und sprang nach, ein dritter, vierter, fünfter folgten und