Heft 
(1889) 39
Seite
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Deutschland.

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der sechste wurde, im Begriffe nachzuspringen, von den herbei­geeilten Frauen gewaltsam zurückgehalten, er wäre sonst mit den anderen geblieben. Als man ihn bei der Feststellung des Thatbestandes nach dem Grunde seiner thörichten Hilfsbereit­schaft fragte, wußte er nur zu antworten:Meine Kameraden kämpften mit dem Tode, ich mußte hin." Er mußte, das heißt, ein innerer Zwang trieb ihn unwillkürlich zur Aufopfe­rung des eigenen Selbst gegen seinen offenkundigen Vorteil, selbst ohne eine Hoffnung auf Erfolg. Noch seltsamer, viel­leicht das ausfälligste Beispiel gewährt die That eines Selbst­mörders, der von einer Pariser Brücke in die Seine sprang. Ein Arbeiter sah ihn, sprang rasch in einen Kahn, obgleich er weder rudern noch schwimmen konnte, kenterte an einem Brücken­pfeiler und wäre ertrunken, wenn ihn der Lebensmüde nicht rasch gefaßt und an das User gezogen Hütte. Auch dem Tier­reiche ist jenes hemmende Pflichtgefühl, das wirGewissen" nennen, ebensowenig fremd wie das treibende, das Pflichtgefühl im engeren Sinne. Ein französischer Gelehrter (Ü.svu6 xlli- 1<)8opIiig^6, 1882) berichtet, wie sein Hund nach einer gewissen Verletzung der Hausordnung von selbst den Winkel aufsuchte, in dem er für solche Vergehen gezüchtigt worden war, und dort in reumütiger Haltung seine Strafe erwartete. Darwin erzählt, wie ein alter Pavian ein kleines Äffchen mit eigener Lebensgefahr und wie durch ein Wunder aus einer Meute wilder Hunde hervorholte und in Sicherheit brachte, also auch hier ein Zwang der Bruderliebe! Das alles beweist, wie der innere Zwang als ein tiefgewurzelter, seinem Wesen nach unbewußter Trieb wirkt, der auf die Gebote der Sittlichkeit gerichtet ist, und je nach der verschiedenen Anlage und Er­ziehung des Einzelnen verschieden ausgebildet auftritt. Seine rätselhafte Kraft, namentlich zur Verhütung von Vergehen, die Thatsnche, daß er so häufig, in ausgesprochenem Widerspruche zu den Anforderungen der berechnenden Klugheit steht, also nicht aus dem bewußten Denken entspringen kann, umgab diesen Trieb von jeher mit einem Heiligenschein, der noch in unseren Tagen manchen Sittenlehrer geblendet hat. Kant sah in ihm die Wurzel aller Sittlichkeit überhaupt, die Offenbarung der Gottheit, des übersinnlichenDinges an sich;" seine Ansicht zählt noch heute im Auslände zahlreiche Verehrer (Renouvier und Seerötan in Frankreich, Sidgwick in England), welche sich an dieseThatsache des Bewußtseins als au die letzte Bürg­schaft einer unumstößlichen Gewißheit in Sachen der Sitten­lehre klammern."

Aber das Pflichtgefühl zeichnet sich nicht nur durch das Ungestüm seines Antriebs und seiner Hemmung aus, es ist auch der Dauer nach den meisten anderen Trieben überlegen. Es ist schlechterdings unverwüstlich und unüberwindlich, wie uns die Thatsachen der Erfahrung, welche wir Gewissensbisse und Reue nennen, noch jeden Tag beweisen: die Auflehnung des inneren Zwanges gegen eine übereilte Handlung, deren Richtung wir im Widerspruche zu einer anderen empfinden, welche das Pflichtgefühl unserem Handeln vorschreibt. Freilich läßt sich diese Unverwüstlichkeit des Pflichtgefühls nicht ohne einige Fehltritte erproben, welche uns über diese Eigenschaft belehren; haben wir aber einmal die Erfahrung gemacht, daß dieser Trieb keine zeitliche Grenze kennt, werden wir uns das nächste Mal hüten, uns mit ihm zu Überwerfen. Mau hat sogar versucht, diese Unverwüstlichkeit des sittlichen Triebes zur Heilung von Geisteskranken zu benutzen; durch Einflüsterung im Zustande der Hypnose erzeugte mau eine Art künstlichen Triebes, der schädlichen Neigungen der Kranken entgegeuwirkte. Auch dadurch zeichnet sich das Pflichtgefühl aus, daß es keinerlei Ablenkung duldet, sondern auf unbedingten Gehorsam gegen seine Gebote dringt; auch dadurch, daß es stets recht behält. Wer die Feuerprobe der Pflicht mit Ehren besteht, sonnt sich im unvergleichlichen Hochgefühle der guten That, wer mit Ehren untergeht, fühlt überhaupt nichts mehr; hier folgt dem Streben nie die Enttäuschung, der sichere Nachgeschmack aller sinnlichen Genüsse.

Der Wert des inneren Zwanges für das sittliche Han­

deln geht aus den angeführten Beispielen zur Genüge hervor; er ist es allein, der noch heute bei der Mehrzahl der Völker und Menschen ein Handeln ermöglicht, dessen Reinertrag der Gesamtheit oder dem Nächsten zu gute kommt, während das überlegte Handeln des Einzelnen sich naturgemäß in der Rich­tung der Selbsterhaltuug bewegt. Dieser Umstand weist zu­gleich auf den mutmaßlichen Ursprung dieser eigenartigen Er­scheinung hin. Sie ist ein gesellschaftlicher Trieb, der seinem Wesen nach teils in einer Notwendigkeit der menschlichen Einzel­anlage, teils in der Rückwirkung der menschlichen Umgebung auf den Einzelnen wurzelt. Jeder gesunde Mensch ist im Be­sitze eines Überschusses verfügbarer Kraft, die er auf irgend eine Weise entladen muß. Je nach den verschiedenen Seiten des menschlichen Seins nimmt diese Entladung verschiedene Formen an; so ist vor allem das Verhältnis der Eltern zum Kinde der Urquell aller Geselligkeit und Nächstenliebe, die letzte Wurzel aller sittlichen Triebe. Aber auch das geistige Leben empfängt seinen Anteil an dieser Entladung; wie unglücklich wäre die Menschheit, müßte sie ihre Gedanken und Gefühle bei sich behalten, allein ihrem Handeln zuschauen? So aber fühlt jeder den natürlichen Drang, seinem überquellendeu Herzen Luft zu machen, seinen hochfliegenden Plänen bei anderen Ein­gang zu verschaffen, für seine Willensthaten die Mitwirkung und den Beifall anderer zu erringen, und je reicher die Fülle der Gedanken, Gefühle und Entschlüsse, desto uubezwinglicher ist der Trieb zur Mitteilung. Die schrankenlose Selbstsucht ist so eine Selbstverstümmelung, eine Verkümmerung des Seelen­lebens; in Wahrheit ist das Leben in der Gesellschaft das Ziel alles Einzellebens, und derAltruismus," die uneigennützige Nächstenliebe, wurzelt in einem bestimmten Lebensbedürfnisse des einzelnen Menschen. So ist die Pflicht nach dieser Seite hin nur das Bewußtwerden eines Überschusses an Lebenskraft, das Sollen unr die Offenbarung eines Könnens. Kranke, Kinder und Greise sind naturnotwendig Egoisten, und Blaeser hatte recht, wenn er den Erlöser vor der Potsdamer Friedeus- kirche als einen Jüngling in der Vollkraft seines Alters meißelte. Sittlichkeit ist nur die Einheit des Handelns mit den Lebens­bedürfnissen des Menschen, llusittlichkeit ein Zwiespalt, der einen Stillstand der Entwicklung hervorruft. Die Sittlichkeit setzt sich im einzelnen durch den inneren Zwang durch, den eine notwendige Richtung des Lebens auf den Einzelnen ausübt, die Unsittlichkeit erscheint als eine Art Staatsstreich des Ein­zelnen gegen seine eigenen Lebensbedinguugen. Zu diesem natürlichen Zwange tritt der gesellschaftliche, den die Straf­gesetzgebung, die heimische Sitte, endlich der heimische Glaube auf den Willen und das Gemüt des Einzelnen ausüben. Wie jeder Antrieb, neigt auch dieser dazu, aus dem Bewußtsein zu schwinden und als unbewußter Trieb fortzuwirkeu, der auch ohne Überlegung das Handeln in ein gewisses, ausgetretenes Geleise drängt. Dieses zweite Urspruugsgebiet des Pflichtge­fühls bedingt die Veränderlichkeit seines Inhaltes nach Zeit und Ort. Bei den Australnegern wirkt die Verpflichtung der Blutrache für einen verstorbenen Verwandten, den mau durch den Zauber eines fremden Stammes gefallen glaubt, mit der­selben zwingenden Gewalt wie bei uns die Verpflichtung des Worthaltens nach gegebenem Versprechen. So tritt das Ge­bot:Du sollst Deinen Nächsten lieben als Dich selbst!" an die erste Stelle, da es der Ausdruck einer gemeinsamen Lebeus- bedingung aller Menschen ist; das andere:Thue recht und scheue niemand!" rückt an die zweite Stelle, da es nur Pflichten betrifft, welche ihre Ausbildung zu solchen erst durch das Ge­sellschaftsleben der Menschheit erfahren haben, und deren bin­dende Kraft je nach den Ümständen eine verschieden starke ist.

(Schluß folgt.)