Heft 
(1889) 39
Seite
651
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Deutschland.

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hüpfenden Schritt weiter, und nur weil das böse Jmpondera- bile, unser Verstand, wie festgenagelt vor der Erscheinungen rasender Flucht in ein Dunkel starrt, glauben wir, der Tod sei etwas Besonderes. Das kann ja jeder glauben, der noch nicht gestorben ist, es braucht es aber niemand anzunehmen, der nachdenkt.

Ich weiß nicht, wie viel Leute dem billigen und darum doch nicht armseligen Zeitvertreib obliegen, sich selbst auf körper- lichen und geistigen Schritt und Tritt zu beobachten, und wie wenigen es gar gelingt, sich selbst in der Totalität oder nur bei einen: einzigen Akt zu fixieren. Daß es bei der Art un­serer Sinne nicht vollkommen geht, kann deutlich jeder erfahren, der seine Stimme aus dem Phonographen wiederhört, die wohl jeder Bekannte, nicht so er selbst wiederzuerkennen vermag. Oder laß Dir ein von einem Photographen nicht retouchiertes, also absolut ähnliches Bild zeigen, Du erschrickst, wie un­ähnlich Du Deiner bisherigen Vorstellung warst. Allein da die Fehlerquellen hier wie dort annähernd gleich sind, quan­titativ und qualitativ, so kannst Du getrost den Versuch machen, Dich zufixieren." Allein wie erstaunt man, wenn man sich nach einem Jahre oder schon nach viel kürzerer Zeit in einer ähn­lichen Lage wiederfindet, wie sehr man sich selbst in jeder Hin­sicht verändert hat.

Also nur, weil wir nicht beobachten, erscheint der Ablauf unserer Lebenszeit uns so kurios. Schauen wir aber in un­serem Leben ruhig zu, ans andere, ans uns, so werden wir finden, daß wir bei unserem Sprung ins Jenseits gar keinen Sprung, sondern unseren langsamen Schritt weiter machen, der unfern Hintermann so sehr erschreckt.

vom sittlichen standpunkt in der Kritik.

Von

Spitteter.*

HA^as ist nun wieder einmal ein liebliches Schauspiel: Ein Teil der Schriftsteller den andern als Schweine cxkom- munizierend, und der zweite Teil den ersten als lüsterne, verbuhlte Greise den Damen empfehlend. Nachher verlangt man Achtung vor dem Schriftstellerstand.

Ich weiß nicht, wer angefangen, aber ich erkundige mich angelegentlich danach, wer endlich den guten Geschmack haben werde anfzuhören. Wenn ich indessen nicht falsch benachrichtigt bin, soll im Gegenteil der Spektakel erst recht beginnen, da, wie es scheint, wohlthütige Vereine sich im Namen der empör­ten Sittlichkeit der Litteratur annehmen, in Form eines Kreuz­zuges gegen eine Gruppe der modernen Schriftsteller.

Das Opfer ist diesmal zufällig eine Fraktion, welche we­der durch Beliebtheit, noch durch Ruhm und Ansehen geschützt ist, eine Fraktion, welche überdies ihre etwas grünen Talente hauptsächlich dazu verwertet, ihren Kollegen das Leben sauer zu machen. Es liegt also für die übrigen Schriftsteller die Versuchung nahe, sich vergnügt die Hände zu reiben und der sittlichen Koalition Gruß, Segen und Waffen zu spenden. Um so mehr erachte ich den Anlaß für gegeben, um ein ernstes Wort der Warnung auszusprechen, und da ich mich von jeher als einen ästhetischen Gegner der in Frage kommenden Frak­tion bekannt habe, darf ich hoffen, daß meine Warnung an­gehört werde.

Ich halte die Politik, sich eines litterarischen Gegners, sei er wer er wolle, mittelst des Pfarrers oder des Staatsanwal­tes oder des öffentlichen Instinktes zu erwehreu, für eine leicht­fertige (ehrenrührige Angriffe auf die Person natürlich aus-

* Wir freuen uns, die beherzigenswerten Ausführungen des geist­vollen und wahrhaftigen Schweizer Schriftstellers bringen zu können, wenn wir auch mit seinem Urteile über den Realismus nicht überein­stimmen. D. Red.

genommen). Thebaner und Athener mögen einander noch so bissig bekämpfen, nur sollen sie nie und nimmer Philipp von Ma­kedonien zu Hilfe rufeu. Philipp von Makedonien aber be­deutet für den Schriftsteller jede Macht, welche litterarische Werke von einem anderen Standpunkt beurteilt, als dem litte­rarischen, trage sie auch den allerehrwürdigsten Namen. Solch ein Übergriff geht ans Umwegen jeden einzelnen von uns an, und die verbittertsten Feinde müssen sich znsammenschließen, um dagegen im Namen der Litteratur und der Standesrechte ein­stimmig Verwahrung einzulegen.

Das möchte man nun freilich nicht zugeben; man wähnt durch die Einmischung einer so erlauchten Person, wie die Sitt­lichkeit, diewahre" Freiheit nicht gefährdet; man fühlt sich im Bewußtsein seines eigenen Anstandes davor sicher, daß man etwa auch einmal an die Reihe komme. Ich aber behaupte, es ist kein Schriftsteller, der es ernst und gewissenhaft mit der Kunst meint, und wäre er von mädchenhafter Keuschheit und Schamhaftigkeit, davor sicher, eines Tages plötzlich auf Grund eines seiner Werke in sittlichen Verruf erklärt zu werden; keiner, auch der größte nicht; auch nicht ein solcher, den man dereinst der Nation als sittlichen Erzieher predigen wird. Wenn ich daran erinnere, daß sogar Gottfried Keller mit Sittlichkeit be geifert wurde, und zwar wegen seines seelenvollsten, tiefsten und herrlichsten Meisterwerkes (Romeo und Julia), brauche ich wohl keine anderen Beispiele anzuführen. Und falls sogar einer es absichtlich darauf anlegte, nur ja keinen Anstoß zu geben, falls er sein Lebtag für zwölfjährige Mädchen schriebe, so würde es ihm doch nichts helfen. Denn in diesem Falle könnte man ihm ohne große Müheschlau verhüllte Lüsternheit" Nachweisen.

Die Erscheinung hat nicht nur ihre Ursache, sonderu ihre:: guten litterarischen Grund; und zwar einen doppelten.

Solange die Welt steht, solange wird, wer sich zu rea­listischen Stoffen und realistischer Darstellungsweise bekennt, wer den Humor, wer die Satire pflegt, deu Cyuismus schwer­lich entbehre:: können. Der Chnismns kann ans diesen: Gebiet nur mit Schaden au Leib und Seele vermieden werden, wie denn ein zimperlich prüdes Hosen-Zeitalter das Gedeihen von Meisterwerken dieses Stils geradezu vereitelt. Wer also in litterarischen Werken Cynismen bringt, ist deswegen noch kein Schwein, sonst wäre Shakespeare ein Schwein, und Goethe ein Schwein, und Schiller ein Schwein, und überhaupt die Lite­ratur ein Schweinestall. Das ist jedoch noch nicht alles. Be­kanntlich hat der moderne Realismus die Wahrheit in mannig­facherem Sinne sich znm Gesetz gemacht, als das jemals früher der Fall war, indem er die Wahrheit nicht bloß als Mittel, sondern als oberstes Ziel hinstellt. Ob das richtig oder ob es falsch sei, kommt hier nicht in Betracht; das ist eine rein litterarische Angelegenheit, welche mit der Moral nichts zu thuu hat. Ist aber eiumnl buchstäbliche Wahrheit als Kuust- ziel angeuvmmen, dam: steht es dem eiuzelnen Verfasser, der sich zu diesem Glauben bekennt, nicht frei, wichtige Hauptab­schnitte der Wahrheit um äußerer Rücksichten willen zu über­springen; der Kritik wiederum steht es nicht zu, ihn deswegen zu tadeln, weil er thut, was ihn seine litterarische Überzeugung thun heißt. Ein solcher Hauptabschnitt nun ist das Geschlechts­leben mit seiner ganzen seelischen Projektion, dessen Wichtigkeit zu leugnen bloß die Einfalt oder die Heuchelei vermag. Han­delt es sich freilich um einen realistischen Freskvstiel, daun kann wohl dieses Thema vermieden werden, wie z. B. in: Drama. Hat man es dagegen mit zergliedernden Seelenschilderungen zu thun, wie in: Roman, so sehe ich das Mittel nicht ein, wirklichkeitsgetreu darzustellen, ohne jungen Mädchen Anstoß zu geben. Mit ebensoviel Recht wie von dem realistischen Roman konnte man von einen: physiologischen oder patho­logischen Lehrbuch fordern, daß es nichtsUnanständiges" enthalte. Warum soll ich meine Überzeugung nicht rückhalt­los aussprechen? Ich rechne es einem naturalistischen Roman zun: Fehler an, wenn er um des lieben Anstandes willen der Wahrheit ein Feigenblatt nmbindet. Man schreibt zwar in der Litteratur nicht allein für Männer, aber ebensowenig allein

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