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Deutschland.
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für Weiber. Man schreibt für die Nation und womöglich für die Welt. Eine Nation aber ist die Summe des Geistes sämtlicher ausgezeichneter Männer und Weiber. Wer will sich nun vermessen, diesen Geist Polizeilich-Pädagogisch zu bevormunden? Und wer in aller Welt soll denn die ungeschminkte nackte Wahrheit erfahren, wenn nicht er? Soll eine ganze Nation mit einem Scheuleder von der Wiege zum Grabe pilgern wie ein Müdchenpensionat hinter einer Gouvernante? Jeder kann lesen oder lassen, was er will; aber ein Künstler kann nicht schreiben, was man will, sondern was er muß. Falls daher ein Schriftsteller im Namen der Wahrheit etwas Anstößiges schreibt, so lautet die Frage billiger- und einfacherweise: ist das Anstößige wahr oder nicht; oder, vom Schweinestandpunkt betrachtet: ist die Wahrheit ein Schwein oder nicht. Wenn ja, dann möge man sich über die Wahrheit beklagen, nicht über ihren Berichterstatter. Dies schreibt jemand, welcher persönlich an einer wahren Idiosynkrasie gegen jede Zote leidet; welcher Rabelais nicht zu lesen vermag, weil ihn das kopro- logische Bombardement anekelt. Solch einen klassischen Stinkküfer verschluckt jedoch die Kritik wie Konfitüre, mit ehrerbietigen Bücklingen; dagegen die Modernen, welche sich zu Rabelais verhalten wie weiße Firmelkinder zu einem alten Fechtmeister, verhetzt man wegen einiger Unziemlichkeiten. Man nennt dergleichen Litteraturgeschichte; ich nenne es Mückenseigen und Elefantenverschlucken; daß die Opfer es Heuchelei nennen, kann ich tadeln, aber nicht schelten.
Das ist die eine Seite. Nun die andere.
Ebenso scharf wie boshaft haben die Naturalisten ans ihrem Verrufswinkel die sittliche Blöße des Gegners ausge- spüht. „Schlauverhüllte, versteckte Lüsternheit," lautet von dieser Seite der Vorwurf. Versteckte Lüsternheit in Heyse, in Baumbach, in Julius Wolfs, in Marlitt, versteckte Lüsternheit in dem züchtigsten Familienroman. Ich bestreite das nicht, ich ergänze bloß: versteckte oder auch nicht versteckte Lüsternheit in Homer, in Herodot, in Horaz, in Ovid, in Ariost, in Tizian, in Correggio, in Rubens. Man befindet sich da jedenfalls in beneidenswerter Gesellschaft. Ich fahre fort: versteckte und offene Lüsternheit in der ganzen französischen Kultur, versteckte und offene Lüsternheit ganz besonders in der gesamten griechischen Welt. Ich schließe: unverhüllte Lüsternheit von Lessing in nüchterner Abhandlung befürwortet. Die erlauchten Beispiele ließen sich ins Unendliche vermehren; doch ich denke, das genügt. Wäre ich ein Philosoph, so wollte ich mich anheischig machen, den Beweis zu führen, daß die „versteckte Lüsternheit," das will sagen: die Formsinnlichkeit oder Feinsinnlichkeit oder Schönsinnlichkeit einer der edelsten und heiligsten Hebel erstens der Kunst, zweitens der Kultur, drittens der kosmischen Fortentwicklung bedeutet, daß Phantasie und Ideal mit der Formsinnlichkeit Zusammenhängen, wenn sie nicht gar in ihr wurzeln, daß wir uns ohne die Beimischung dieses nervös-sensitiven Elementes noch heutzutage statt der Serviette oder des Tintenwischers unseres eigenen Affenringelschwanzes bedienen würden. Da ich jedoch kein Philosoph bin, halte ich mich an die Beobachtung. Ich habe aber beobachtet, daß die höchsten Geisteskulturen der europäischen Nationen ausnahmslos einen starken sinnlichen Zug aufweisen, daß sogenannte Künstlernaturen eminent sinnliche Naturen zu sein pflegen, daß Idealisten vermöge ihrer Religion der formalen Schönheit sich von der Schönheit weiblicher Formen leichter die Phantasie bethören lassen, als andere, namentlich als solche, welche überhaupt keine Phantasie haben. Und die Naturalisten, die mit ihren Destillierapparaten so eisengrimmig auf jeden Schatten eines Funkens von versteckter Lüsternheit Jagd machen, sind sie denn selber in ihren Schriften von Lüsternheit frei? Nicht, daß ich wüßte. Ich habe bloß bemerkt, daß sie im Namen der Kraft und der Wahrheit die Sinnlichkeit mit Gestank parfümieren, was die Sache vielleicht besser, aber nicht anders macht.
Die Doppelgleichung lautet mithin: In: Heerlager der Wahrheit werden wir selten die Unanständigkeit, im Lager der Schönheit selten die „schlau verhüllte, versteckte Lüsternheit" ab
wesend finden. Es thut mir aufrichtig leid, daß es so ist, aber es ist so.
Was nun?
Nun, ich will einfach eine bescheidene Thatsache mitteilen. Seit ich Kritik übe — und ich übe sie öfter als zu meinem Privatwohlbefinden unbedingt nötig wäre — habe ich mir zum Gesetz gemacht, niemals, unter keinen Umständen, ein Buch als unsittlich zu denunzieren. Dieses Gesetz habe ich bis jetzt gehalten und ich bin wohl damit gefahren.
„Aber um Gottes willen, man kann doch wahrhaftig nicht —!"
Ich bitte um Verzeihung, man kann.
„Ja, aber ums Himmels willen, was fangen Sie denn an, wenn Sie ein Buch zugeschickt bekommen, das von Unsittlichkeiten strotzt?"
Ich beurteile es nach seinen litterarischen Eigenschaften.
„Ohne auf den Skandal hinzuweisen?"
Ohne nach Philipp von Macedonien zn rufen.
„Sie ignorieren also vollständig —"
Verzeihen Sie, ich ignoriere nicht, ich richte sogar; nnr leihe ich, wenn ich meinen Spruch petschiere, nicht den Siegellack vom Pfarrer oder von der Polizei. Haben Sie noch nie davon gehört, daß der Mensch ein Ganzes ist? Nun, da Sie das wissen, kann ich mich Ihnen leicht verständlich machen. Das Geheimnis beruht einfach in folgendem: Wenn ein Bnch ans lauter Lüsternheiten oder Unflätereien besteht, so ist es nnch ein ästhetischer Schund; wenn ein Verfasser unnützerweise etwas Anstößiges vorbringt, so ist das zugleich ein stilistischer Fehler und so weiter. Wollen Sie Beispiele? Nehmen Sie Wieland. Wieland ist lüstern und — langweilig. Ich könnte Ihnen statt Wielands auch allerlei Beispiele ans der neuesten Litteratnr vorführen und jedesmal würden Sie finden, daß Gratiszngaben von Unflätereien oder Buhlereien stets gleichzeitig ein Werk litterarisch beeinträchtigen.
„Und Sie glauben, es sei genug, den Fehler als einen litterarischen bloßzulegen?"
Ich glaube sogar, es sei mehr, als was man durch jede andere kritische Methode erzielt. Denn wenn ich einen Verfasser als „unsittlich" denunziere, so werfe ich ihn ans dem Geleise der Litteratur in eine verbitterte Opposition und lasse ihn, was vielleicht nur eine Übereilung war, jahrelang büßen. Oder, was wohl viel häufiger vorkommt: der Verfasser sreut sich zum voraus königlich auf den Skandal und hat schon seine Mürtyrerkroue beim Hutmacher bestellt. Sehen Sie, diesem wollen wir sein Spiel gründlich verderben, indem wir seine unsittlichen Fanfaronaden gar nicht beachten, sondern ihn ebenso ruhig als einfachen, unqualifizierten Pfuscher begraben, wie den frommsten Weihnachtspfnscher, ohne jedes besondere Aufheben. Den ersten dagegen heilen wir weit zuverlässiger, wenn wir ihm mit den freundlichen Worten auf die Schulter klopfen: „Lieber Kollege, passen Sie doch ein wenig auf Ihren Stil auf. Sie wirtschaften ja mit Gestank und Waden so unbarmherzig, daß niemand Ihr Bnch bis zur Mitte anshült." Glan bei: Sie nicht, das sei die wirksamste Medizin?
„Ich beneide Sie um Ihr Temperament. Allein fühlen Sie denn gar keine Verpflichtung, Ihre Leser vor allfülligen Fehlgriffen zu warnen, damit nicht etwa eine einsame Waise solch einen naturalistischen Greuel in die Hand bekommt?"
O ja. Habe ich freilich ein Machwerk schon vom litterarischen Standpunkt als Schundware verurteilt, so bedarf es keiner ausdrücklichen Warnung mehr; denn niemand begehrt etwas Langweiliges. Im Gegenteil, wer bürgt mir dafür, daß die einsame Waise nicht den Schund heimlicherweise erschliche, wenn ich ihr verraten Hütte, daß er verbotene Früchte enthalte? Wenn ich hingegen von Kunst oder Dokuments wegen ein anstößiges Buch als ein höchst interessantes, lesenswertes Werk zu charakterisieren Hütte, wie etwa die Novellen von Boccaccio oder die Memoiren von Casanova, so würde ich am Schlüsse die Warnung hinznfügen: „Das Buch eignet sich nicht für junge Mädchen."