Heft 
(1889) 42
Seite
690
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Deutschland.

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man findet in der That unter den Böhminnen oft wunder­schöne Gestalten.

Hier sind nun auch schon an der Grenze Gegenden, wo man in den Dörfern die Kinder splitternackt einherlanfen sehen kann zwischen den jungen Ferkeln, als stiege man in süditalie­nischen Dörfern herum. Man pflegt das im Reiche oft als eine allgemeine Eigenschaftböhmischer Dörfer" anzusehen; das ist aber nicht wahr; wir haben nur in jenem nördlichen Winkel Gelegenheit gehabt derlei zu sehen, während uns längs des Erzgebirges niemals dergleichen zu Gesicht gekommen ist. Es ist überhaupt seltsam, wie oft ein solches geflügeltes Wort, wie das von denböhmischen Dörfern," zu falschen Vor­stellungen Anlaß giebt. Man meint, in Böhmen müßten die Dörfer besonders armselig sein. Aber das ist nur hoch auf den Höhen des Erzgebirges der Fall, wo die sächsischen Dörfer im ganzen nicht besser daran sind. Sonst macht das deutsch­böhmische Land nur in einigen Kohlengegenden einen ärmliche­ren Eindruck. Im großen ganzen aber ist es ein wahres Pa­radies mit seinen lachenden Fluren, seinen reichen Thälern, seinen herrlichen Lanbwaldnngen, seinem Wein, seinem Obst, mit den mächtigen Gebirgen, zwischen denen sich liebliche Flüsse schlängeln, und mit den Ruinen, welche allenthalben die Berg­spitzen krönen und an eine dahingeschwundene Zeit mahnen. Und wenn dies romantische Land uns als ein deutsches Land erscheint durch seine seßhafte, kerndeutsche Bevölkerung, so ge­winnt es doch eine eigene Poesie durch einen gewissen zigeu­nerhaften Zug, der manchen Mann ans dem Volke, manchen, der hier über Land geht, merkwürdig macht. Der Osten kün­digt sich an; eine fremde Welt ragt geheimnisvoll und, aben­teuerlich in die deutsche Welt herein, und die Ruinen selbst auf den Bergen scheinen von ihrer höheren Wacht etwas zu ahnen von Ländern, wo man mit einer anderen Zunge spricht und anders fühlt, wehmütiger und glutvoller, schmerzeusreicher uud rascher iu Haß und Liebe, unsteter und weicher zugleich. Noch hört man von den Bergen die kräftigen Lieder in der festen Dur-Tonart des Germanentums; aber aus der Ferne klingt auch das weichere, träumerischere Moll des Slawen herüber, und diese Mischung enthält einen eigenen Zauber, der die Seele wundersam gefangen nimmt.

Auch an der Donau abwärts von Passau über Linz nach Wien ragen viele Burgen; aber hier herrscht nicht die seltsame Wehmut des Böhmerlandes, sondern man bleibt im ganzen in unverfälschten deutschen Empfindungen mit der deutschen Art der Bevölkerung. Im Böhmerwald ist noch Urwald und Ur- germanentum; die «oouli ti-rioes,» dietrntzigen Augen" des Germanen und der «llmor tautonious» dieser Männer verbürgt zähen Widerstand gegen alles, was die Grenze deutschen Wesens weiter hinausschiebcn möchte über die Köpfe dieser Männer und Frauen weg.

Wir haben diese Grenzwandernng mit Absicht ganz an der Außenseite des Reiches, ganz an der Außenseite der Dinge gehalten. Oft zeigt das Äußere das Innere an, da, wo man es am wenigsten sucht. Dieses schöne Reich, dieses liebliche Reich, das dereinst das Kanaan deutscher Völker war, welche hiuuuterzogen als Ansiedler in die Niederungen des Ostens, aus allen Gauen des Reiches, ans Schwaben, Franken und Bayern, ans Thüringen und Obersachsen! Je weiter man ins Innere kommt, desto mehr vermischen sich die deutschen Stämme; an den Grenzen stehen noch die einzelnen Stammesgruppen deut­lich geschieden es muß wahrlich ein deutsches Land sein, das, dem edlen Hanse der Habsburger anvertraut, zur kultur­bringenden Vormacht des Ostens geworden ist. Und der Reichs­deutsche wird nicht ohne tiefere innere Bewegung aus diesen Grenzlanden heimkehren, wo er überall die eigenen Stammes­genossen, nur feiner, nur milder, nur wühlerischer geworden wiederkennt, wenn er bedenkt, daß ein gut bewährter Bund der Staaten auch in Gefahren den Schutz dieser gesegneten Lande verbürgt.

Wie Grillparzer sich zu nuferem Schiller, wie Haydn und Mozart sich zu den nordischen Meistern Bach, Händel und

Beethoven verhalten, so fühlen wir auch iu deutsch-österreichischem Gebiete die Landschaft und die Menschen sich von denen im Nordreiche abheben. Es ist dasselbe Blut, es ist derselbe Geist, uur etwas weicher und milder wie die Landschaft selbst. Es giebt Pflanzen und Bäume, welche, wie der Ephen, einzelne Zweige abgeben, die, unabhängig von der alten Wurzel, aus dem Zweige heraus eine neue Wurzel schlagen und doch ebenso herrlich wuchern und gedeihen. Absenker, die glücklich gedeihen, liebt man wohl noch ängstlicher, als den heimischen Stamm mit der alten Wurzel. Dian muß an den Grenzen Österreichs wandern, um dieses sorgliche Gefühl in seiner ganzen Macht zu empfinden.

Ein Rückblick

aus dem

Jahre 2000 auf das akademische Kunstjahr 1890.

Von

ch^m Jahre 2000 wollte die Berliner Schuster-Akademie zur Feier ihres zehnjährigen Bestehens die erste akademische Stiefel-Ausstellung veranstalten. Es stand gerade der im Mittelpunkt der Reichshanptstadt also am Vereinigungs- Punkt der längst einvergemeindeten* früheren Städte Potsdam und Werder -- gelegene Wellblechpalast leer, in welchem kurz vorher die internationale Ausstellung elektrischer Fernschießer und mit allem Komfort der Neuzeit ausgestatteter Nitroglycerin­kanonen für die friedlichen Tendenzen aller europäischen Staaten ein so glänzendes Zeugnis abgelegt hatte. Der herrliche, stellen­weise sogar bepflanzte Garten hatte einen neuen Bierpächter, der für den müßigen Betrag von fünfzig Reichspfennigen zwei zehntel Liter des mit der großen goldenen Medaille gekrönten Gigerl-Brün zu verschenken versprach; die Nikotin-, Wurst-, Wein-, Chokolade- und Schnapstempelchen, sowie die Rosen­mädchen waren bereit, alle berechtigten Ansprüche eines hohen Adels und t. Publikums prompt und pünktlich zu erfüllen. Aber schließlich mußte doch auch etwas ausgestellt werden. Da sprangen die Schuster mit raschem Entschluß in die Bresche; sie konnten sich's leisten.

Nicht die Schuster schlechtweg, sondern die akademischen Schuster der Schuster-Akademie, die alljährlich die Moden fest­zusetzen und in allen ledernen Fragen das entscheidende Wort zu sprechen hatte. Aber die Pfriemen-Akademiker bekannten sich ebenso laut wie feierlich zu dem Grundsätze erhabenster To­leranz: keinerlei persönliche Beziehungen, keine Parteirichtung sollten maßgebend sein für die Maßnehmenden; und damit gab sich denn schließlich auch die nengegründete VereinigungDer freie Stiefel für moderne Zehen" zufrieden. Es konnte losgehen.

Ein Ausschuß wurde gebildet; aber während im Geschäfts­leben gerade die billigsten Artikel der Ansschnßrubrik anheim­fallen, wurden hier, wo es sich um eine eminent künstlerische Lederangelegenheit handelte, die teuersten Meister in den Aus­schuß entsandt: Hofschuhmacher, Cvrdonniers von Unter den Linden, Ehrenmitglieder der Schusterzunft,, und erblich mit Diplomen belastete Meistermyoten. Um kein Ärgernis zu geben, zog mau auch den Vorsitzenden desFreien Stiefel" hinzu; er war der dreizehnte Preisrichter.

Gegen Ende Mai, als der Hochsommer gerade vorüber war, fand die erste Sitzung des Kollegii statt. Zunächst wur­den alle Erzeugnisse des Dreizehnerausschusses uud seiner aka­demischen Epigonen mit Acclamation ausgenommen. Die besten Plätze der Wellblechhalle waren bald besetzt; denn die aka­demische Schusterei hatte eben wieder einmal einen ihrer mit Recht so gefürchteten Höhe- und Blütepunkte erreicht. Der

* Patent: vvm deutschen Sprachverein im Jahre 1999.