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Deutschland.
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Dreizehnte enthielt sich der Abstimmung. Aber das dicke Ende kam nach. Ganze Berge von Schnhzeug türmten sich in den Borräumen aus, und jeder neue Tag brachte neue Stiefelsen- dnngen aus allen Teilen des deutschen Vaterlandes. Fremdländische Produkte waren in einem Augenblick schöner nationaler Wallung mit „allen" gegen eine Stimme ausgeschlossen worden; nur das ganze lederne Deutschland sollte es sein. Hier galt es nun zu sichten und zu sondern, auf daß nicht räudige Schafe sich in die reine Herde drängten. Jeden Tag fand eine Sitzung statt, und die Akademiediener hatten alle Arme voll zu thun, um die Gebilde aus Rinds-, Kalb-, Glace-, Saffian-, Seehunds- und Goldküferleder herbeizuschleppen vor das Tribunal. Die Zeit des summarischen Verfahrens war nun vorbei; um jedes Paar Stiefel fast entbrannten hitzige Debatten, die oft genug auf das Gebiet der ewigen Wahrheiten und der unantastbaren Schusterkunstgesetze Übergriffen. Da gab es Preisrichter, die nur für Rokokoabsütze mit roter Verkleidung Sinn hatten; in anderen lebte eine heftige Idiosynkrasie gegen alles Platte und gegen die platten englischen Hacken insbesondere; der eine sah die Zukunft in einem Schnürstiefel verkörpert, der andere schwärmte für Gummizüge, die dem erhitzten Fuß das unentbehrliche xloiii air zuführen könnten; der Hoftheaterlieferant endlich wollte von gewichsten und gelackten Fußbekleidungen überhaupt nichts wissen und stellte die ideale Forderung nach Ritterstiefeln und Sandalen auf, die dein hypermodernen Dreizehnten eine laute Lache und ein leiseres „verzopfter Konventionsanbeter" erpreßte. Er wurde zur Ordnung gerufen und stimmte von nun an immer gegen die Majorität.
Bon Tag zu Tag wurden die Gerichtssitzungen länger. Mehrheit setzte durch, und wenn ein Mehrheitsbeschluß schwer herbeizuführen war, so trat man in Transaktionen ein, d. h. es wurden kleine Überzeugungstauschgeschüfte auf Gegenseitigkeit abgeschlossen. Meister A. stimmte für den Schützling Meister B.s, wohingegen B. wieder mit A. Hand in Hand ging, wenn dieser es für wünschenswert hielt. Man nannte das auch ein Kompromiß, und man gewöhnte sich allmählich daran, diese kleinen Handelsverträge mit herzerquickender Offenheit pullllee zu verhandeln. Abgelehnt wurden nur noch die von keinem Meister patronisierten einlaufenden Sachen; diese aber mit geradezu vernichtender Majorität. Nur um die Mittagszeit konnten mitunter Jrrtümer nicht vermieden werden; und es kam vor, daß mit knurrendem Magen Schuhwaren angenommen wurden, die zu jeder anderen Tageszeit mit unfehlbarer Sicherheit abgewiesen worden wären. Und umgekehrt. Aber das waren eben Ausnahmen, die ja nach einem alten und ewig unsinnigen Sprichworte die Regel bestätigen sollen; und die Regel war: wer zur Zunft gehört oder gehören will, wird ausgenommen; wer sich aber erfrecht, andere Stiefel zu machen, als sie seit hundert Jahren gemacht worden sind, der mag für diese stillosen, rohen, geschmacksverderblichen, unästhetischen und revolutionären Produkte einer kranken und pietätlosen Phantasie ein anderes Unterkommen suchen. Wo die echten Meister Hansel: und die echte Kunst, da ist kein Raum für diese neusten, die sich so fürchterlich erdrensten. Nach dieser löblichen Ordnung wurde verfahren, und das Dntzendgericht befand sich recht wohl dabei.
Aber in des Dreizehnten Busen, des ewig Überstimmten, wuchs bitterer Groll, und als seine Genossen in der Jury die ganze Sonderausstcllung des „Freien Stiefel," für den ein eigener Saal reserviert werden sollte, debattelos nbgelehnt hatte, da halt' er's lang' genug getragen, trug's nicht länger mehr. Auf sprang er und hielt eine donnernde Rede, in der arge Worte vorkamen, wie Brotneid, Cliquenwesen, Bevormundungssystem, kurzsichtige Senilitüt, Haß der Besiegten gegen die Sieger u. s. w. u. s. w. Der Dreizehnte hatte seine Gegner zu sehr in der Nähe gesehen; er ging hin und schrieb eine Broschüre gegen die akademische Stiefel-Ausstellung.
Es traf sich aber, daß die Ausstellung nicht den erwarteten Erfolg hatte. Das Gigerl-Bräu zwar floß in Strömen, die Vik-
tualienbuden und die Rosenmüdchen machten glänzende Geschäfte, sogar Lose wurden gekauft, obwohl die Gewinnchancen noch geringere waren als die der im zwanzigsten Jahrhundert mythisch gebliebenen Schloßfreiheitlotterie, und jeden Montag konnten die Zeitungen eine fünfstellige Ziffer über den Sonntagsbesuch veröffentlichen. Die fünfzehn Militärkapellen, das ostafrikanifche Kinderorchester und das japanische Streichduodezett unter Leitung des Fürsten Doll-ver-rücki übten eine gewaltige Anziehungskraft auf „unser kunstliebendes Publikum." In den Sälen aber und den Hallen sah es öde aus, und unter den spärlichen Besuchern war man ziemlich einig darüber, daß hier nichts als der alte Stiebel zu sehen sei. (Feiner fühlende Leute sprechen nur vom alten Stil, was jedenfalls hübscher klingt.) Die Ausstellungskritiker aber — und ihre Zahl war Legion und es gab sogar welche darunter, die was von: Stiefelmachen verstanden — fingen an, mit wohl erwogenen technischen Ausdrücken — „kräftige Nadclfüh- rung," „schönes Kolorit," „Plastik der Brandsohle," „souveräne Beherrschung des stofflichen Materials," „originelle Fußauf- fassnng," „hohe Spannkraft," „glänzender Farbcnanftrag" u. s. w. — die knappen Andeutungen des Katalogs ausführlichst zu umschreiben. Über die erste Kritik setzten sie eine bedrohliche römische I.
Da geschah es, daß ein Kritiker die Broschüre des Dreizehnten entdeckte, d. h.: eigentlich wurde sie ihm mit einer sehr tiefgebeugten Widmung vom Verfasser unter Kreuzband ins Haus geschickt, und da sie ungenügend frankiert war, mußte der glückliche Empfänger Strafporto bezahlen. Aber er hatte diese Aufwendung nicht zu bereuen. Dieser Kritiker war nämlich jener Kritiker, der unablässig auf der Jagd nach dem neuesten Skandal war; er rempelte alle an, Jdea-, Rea-, Natura- und Symbolisten; denn er hatte selbst etwelche Bücher geschrieben, die seinem Verleger, wie der wackere Kunstfreund vor Gericht bekennen mußte, niemals die Druckkosten eingetragen hatten.
Diesen: ausgezeichneten Menschen fiel nun die Streitschrift gerade zu einer Zeit in die jeder felsigen Konvention abholden Hände, da es e:gentlich kann: irgend etwas Schimpfenswertes gab, weder neue Stücke noch neue Bücher. Er opferte zwei Vormittagsstunden, die er eigentlich für eine Novelle von acht- bis zwölfhundert Zeilen bestimmt hatte, und las die Broschüre ans einen Sitz. Hurra! Der Juli war gerettet! Und er schrieb noch vor Tisch acht kleine Spalten über die „Znnftschnster und das Genie." Der Titel gefiel ihn:, und warum sollte der Dreizehnte kein Genie sein? Schimpfen konnte er jedenfalls wie ein Künstler von Gottes Gnaden. Fortsetzung folgt, versprach Dr. Flibustier seinen geschützten Lesern; wenn er recht gründlich sein wollte, that er das immer. Übrigens wurde er auch nach der Zeilenzahl honoriert; auch dafür rächte er sich, indem er gelegentlich Paul Heyse einen lüsternen ponnv-a-liimr nannte. Man muß nichts nmkommen lassen.
(Schluß folgt.)
E e b e n s g e m e i n schsft e n.
Von
Theodor Jaensch.
ch^u Nummer acht dieser Zeitschrift habe ich einen Aufsatz veröffentlicht, welcher sich mit den eigentümlichen Lebens- beziehnngen zwischen Ameisen und gewissen, sie beherbergenden, sogenannten „Ameisenpflanzen" beschäftigte. Die heutigen Zeilen sollen einer umfassenderen Beleuchtung der Erscheinungen gewidmet sein, aus welchen die damals hervorgehobenen nur eine Gruppe bilden: nämlich der allgemeinen Betrachtung der sogenannten Symbiose, und ihrer Verbreitung und Bedeutung.
Die Bezeichnung „Symbiose," also „Zusammenleben," ist zuerst von den: inzwischen verstorbenen Straßburger Botaniker De Vary gebraucht worden, welcher auf der Allgemeinen