Heft 
(1988) 45
Seite
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Wir veröffentlichen die folgende Studie als Zusammenfassung der Diplom­arbeit einer Absolventin der Pädagogischen Hochschule Leipzig (1985), um auch die Auffassungen junger Germanisten zu Fontanes Werk unseren Lesern zur Diskussion zu stellen.

Die Redaktion

Heike Lau (Leipzig)

Betrachtungen zu Raum und Zeit in Theodor Fontanes Irrungen, Wirrungen"

1853 schreibt Theodor Fontane:

Was einzig und allein dauernd dem Menschen genügt, ist immer wieder der Mensch. Nichts ermüdet schneller als die sogenannte ,Schöne Natur'; wie Guckkastenbilder müssen ihre Zauber wechseln, wenn man sie überhaupt ertragen soll." 1

Hier wird ein Prinzip angedeutet, das zum allgemeinen Kunst- und Gestal­tungsprinzip im Fontaneschen Alterswerk werden soll alles dem Menschen als Mittel- und Bezugspunkt unterzuordnen. Der Realist Fontane sucht die psychischen Vorgänge seiner Figuren aufzudecken, er wendet sich ganz deren Charakteristik und innere Befindlichkeit zu, so Gesellschaftliches als Individuell- Privates fassend. Im Gang durch die gestalteten Räume und Zeiten in der Novelle soll diese Spur einer realistischen Kunstkonzeption verfolgt werden. Der Naturraum tritt inIrrungen, Wirrungen" in einer ganz spezifischen poetischen Funktion auf. Landschaft und Natur werden nicht zum autonomen Gegenstand der Literatur erhoben. Für Fontane ist allein das Verhältnis von Zivilisation und Naturraum, die Kontrastwirkung zwischen unberührter Land­schaft und bewegter Gesellschaft bedeutsam. In der Novelle stehen Natur- und Liebesbeziehung in engster Verbindung zueinander. Die Natur wird zum Ort der Selbstfindung und der Entfaltung einer erfüllten Liebesbeziehung, fern­ab von Konvention und Sitte. Sie bietet den Liebenden eine Idylle auf Zeit. So durchziehen gemeinsame Spaziergänge Bothos und Lenes gleichsam als Leitmotiv den gesamten ersten Teil des Romans (Kap. 5, 9, 13, 15). Nicht in konventionellen, milieuhaft eingeschränkten Räumen, sondern in idyllischer Landschaft können sich die Liebenden frei und natürlich begegnen. Den Höhe­punkt des individuellen Erlebens und Wendepunkt der Romanhandlung, den Ausflug nach Hankels Ablage, gestaltet Fontane, indem er Natur und Land­schaft in echte Korrespondenz zum menschlichen Geschehen setzt. Hankels Ablage als Landschaftsausschnit wahrt zwar eine gewisse Objektivität als Gegenstand des Erlebnisses, differenziert sich aber als Stimmungshintergrund im Verlaufe des Ausflugs hinsichtlich seiner Atmosphäre.

Impressionistische Stimmungshaftigkeit kennzeichnet die ersten Stunden in der abgelegenen einsamen Waldgaststätte. Akustische und optische Details wie Lichtstreifen, Glockengeläute, Sonnenuntergang und Blumen als Ausdruck bewegter Natur rufen eine seltsame Gefühlsweichheit und Gelöstheit bei Botho und Lene hervor.Ja, sie war glücklich, ganz glücklich und sah die Welt in

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