Michaeliskirche. Dem freieren Blick entspricht das Gefühl endgültigen innerlichen Verzichts Lenes auf Botho (Kap 17). Die Polarität zwischen Gärtnerhaus und Zoologischem Garten und mündet in eine allgemeine Polarität von Vorort und Großstadt. Diese Beziehung ist sehr spannungsvoll. Der Vorort als leicht idyllisierter Raum existiert nicht isoliert. Er befindet sich in ständiger Konfrontation mit dem pulsierenden Leben der Metropole und deren festgefügten sozialen Mechanismen. Peter Wruck erkennt ebenfalls die tiefere gesellschaftliche Bedeutung dieser Polarität, wenn er schreibt: „Fontane entfaltet soziale Gegensätze als Gegensatz unterschiedlicher, größtenteils voneinander abgeschlossener Lebensformen, der mehr oder weniger den Klassengegensatz einschließt.Soziale Beziehungen werden demnach verräumlicht und lokale Exaktheit erhält symbolischen Aussagewert.
Fontane nutzt die Kontraste der Großstadt zwischen Erhabenem und Groteskem, zwischen Vorort und Metropole und zwischen Stille und Bewegtheit, um neben Sozialstrukturen auch innere Vorgänge der Helden zu vergegenwärtigen. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist Rienäckers Fahrt zum Jacobi- friedhof, nachdem er durch Gideon Franke vom Tod der alten Frau Nimptsch erfahren hat. Durch den Besuch werden viele Erinnerungen wachgerufen und „in der Unruhe, darin er sich befand, war es ihm schon eine Freude, daß ihm das Versprechen wieder einfiel" 5 , der guten Alten einen Imortellenkranz aufs Grab zu legen. Die Unangemessenheit der Situation wird bereits spürbar, als sich für die Fahrt zum Friedhof nur ein „klappriges Gefährt, grellgrün, mit rotem Plüschsitz und einem Schimmel davor"' 1 anbietet. Botho beschleicht auch ein kleines Gefühl des Unbehagens, da die beiden Kränze wegen ihrer Größe sofort auffallen. Es ist ein Schwanken zwischen seiner Ehrauffassung, ein gegebenes Versprechen zu erfüllen und andererseits seiner Befürchtung, sich in den Augen seiner Gesellschaft lächerlich zu machen. Vorübergehend wird er von diesen Gedanken abgelenkt durch die bunte groteske Szenerie, die sich ihm während der Fahrt bietet. In tiefstem Gegensatz wechseln Vergnügungslokale und Werkstätten von Bildhauern und Steinmetzen, „die hier mit Rücksicht auf die zahlreichen Kirchhöfe meist nur Kreuze, Säulen und Obelisken ausstellten."' Diese Kontraste rufen etwas zwiespältige Gefühle beim Betrachter hervor. Botho wird hin und her gerissen zwischen offensichtlichem Vergnügen und leichtem Abgestoßensein von dieser Stillosigkeit, oberflächlichen Vergnügungssucht und der Grellheit der Impressionen. Diese rasch wechselnden Eindrücke bilden den Boden für seine halb glückliche, halb schmerzliche Stimmung und lassen ihn das Leitmotiv „Glück und Glas" und das Polenlied emotional auf sich beziehen. Dem äußeren Kontrast entspricht seine innere Zwiespältigkeit. Er folgt zwar spontan seinem inneren Gefühl und seiner Neigung — die Fahrt zum Friedhof erfolgt aus echter Anteilnahme — allerdings läßt ihn die Kraßheit des Milieus innerlich Abstand gewinnen. Er fühlt das Trennende zwischen den Lebenskreisen deutlicher denn je. Volkstümlichkeit ist doch wohl mehr eine veräußerlichte Eigenschaft Bothos — im Inneren ist Botho von Rienäcker tief den gesellschaftlichen Normen des Adels verpflichtet, tiefer als ihm selbst bewußt ist.
Großstadt und Mensch in ihrer widerspruchsvollen Einheit darzustellen ist letztendlich das Streben Fontanes bei der Stadtgestaltung. Die Stadt als
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