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Deutschland
46.
Zur Urgeschichte der Samilie.
Von
Prof. vn. Ludwig Stein (Zürich).
die Philosophie das innerste Wesen der sozialen Frage zergliedern, so liegt ihr zunächst ob, die so- ziale Struktur in der Weise zu begreifen, daß sie aus deren bisherigeil Entwickelungsgange ihre voraussichtliche künftige Gestaltung erschließt. Dazu ist sie aber nur dann in der Lage, wenn es ihr unter Zuhilfenahme der ethnographischen Erforschung prähistorischer Zustände gelingt, den Urzustand des menschlichen Zusammenlebens, gleichsam die soziale Urzelle, zu ermitteln. Nun herrscht unter Kundigen kein Zweifel darüber, daß die Familie, näher noch die Blutsverwandtschaft, den ersten Keim zur gesellschaftlichen Integration d. h. zur Bildung eines sozialen Gewebes abgegeben hat. Es drängt sich uns daher als erste, die künftigen philosophischen Auseinandersetzungen bedingende Aufgabe auf, die Urgeschichte der Familie an der Hand der einleuchtendsten Annahmen zu verfolgen und aus dieser historischen Betrachtung die sich für die heutige Stellung der Familie ergebenden Schlußfolgerungen zu ziehen. Es wird sich uns dann zeigen, wie die philosophische Betrachtungsweise sich zu jener in der sozialistischen Litteratur viel verhandelten Streitfrage stellt, ob die Monogamie die unter Kulturmenschen einzig mögliche und statthafte Eheform sei, oder ob ein etwaiger sozialer Staat auf frühere Eheformen zurückgreifen könnte.
Vorausschicken darf ich wohl, daß mir jede wie auch geartete Tendenz fernliegt. Die einzige Aufgabe der Philosophen ist, unbeirrt von den einander durchkreuzenden Tagesmeinuugen und unbestochen von irgendwelcher Parteiparole, lediglich die objektive Wahrheit leidenschaftslos festzustellen. Und dazu ist wohl vornehmlich die philosophische Betrachtungsweise im stände. Der Parteimann sieht, eben nur das Hier und Jetzt, der Philosoph hingegen das Überall und Immer. Jener berauscht sich in den Politischen und litterarischen Orgien seiner Zeit und taumelt, aus Furcht zu straucheln, blindlings auf das Nächstliegende Ziel los, während dieser vermöge der gebotenen Parteilosigkeit und der dadurch ermöglichten Leidenschaftslosigkeit inmitten der ihn umrauschenden Bacchanalien nüchtern und hellsehend bleiben kann, so daß, wenn überhaupt einer, nur der Denker die Eignung besitzt, einen klaren Blick in die Zukunft zu thuu. Die menschlichen Begierden und die aus denselben erwachsenen sozialen Gebilde erscheinen ihm eben, um mit Spinoza zu reden, als ob es sich „um Linien, Flüchen und Körper" handelte.
Ein Wort mag übrigens auch über den Wert und die Zuverlässigkeit der Erforschung der vorgeschichtlichen Kultur, auf welche wir uns zu stützen haben werden, vorangeschickt werden. Wollen wir nämlich die geistige Natur der Urmenschen ergründen, uni solchergestalt etwaige Schlüsse über die Grundnatur des Menschengeschlechtes überhaupt zu gewinnen, so sind wir darauf angewiesen,,, die in Recht, Sitte, Kunst und Religion hervortretenden Äußerungen der Centralnervensystcme jener Urmenschen festzuhalten, da uns ein Einblick in deren Inneres, wenn sich selbst fossile Überreste erhalten Hütten, doch ein für allemal versagt ist. Es mag ja sein, daß dieses durch die prähistorische Forschung kombinierte kulturhistorische ABC, durch welches wir in den verwitterten Geschichtsblüttern der Urzeit lesen wollen, so manchen Druckfehler durchschlüpfeu und gar manches Schiefe mit unterlaufen läßt; allein angesichts des Umstandes, daß wir ohne die prähistorische Forschung von der Urzeit keinerlei Kunde erhalten würden, ist uns jede auf einleuchtende Vernunftgründe aufgebaute Vermutung willkommener als gar keine. Tritt nun noch hinzu, daß einzelne Buchstaben jenes Alphabets sich heute auf ihre Richtigkeit prüfen lassen, dann werden wir nicht umhin können, diesem modernen Forschuugszweig Vertrauen entgegenzubringcn, wenn
gleich wir uns niemals verhehlen dürfen, daß wir uns dabei auf dem immerhin schwankenden Boden der Hypothese befinden.
Eine Bestätigung hat jenes Alphabet aber in jüngerer Zeit dadurch erfahren, daß das demselben zu Grunde liegende Leitmotiv des Entwickelungsgedankens sich auch bei den menschlichen Gefühlen Nachweisen ließ. Mau hat nämlich überzeugend gezeigt, daß nicht bloß unsere Körperformen ihre gegenwärtige Gestaltung in einem durch den Kampf'ums Dasein hervorgerufencn Prozeß der Entwickelung gewönnen haben, daß vielmehr auch psychische Phänomene, insbesondere ästhetische Gefühle, einen nachweislich langwierigen Entwickelungsprozeß durchgemacht haben, bevor sie sich den ihnen heute nachgerühmten hohen Grad von Feinheit zu erringen vermochten. In geradezu zwingender Weise ist dieser Beweis in jüngster Zeit für das Naturgefühl erbracht worden. Das heute allen Kulturmenschen eigene ästhetische Wohlgefallen an Natnrschön- heiten ist, wie glänzend gezeigt worden ist, überraschend jüngeren Datums, als mau gemeiniglich geglaubt hat, und die einzelnen Stadien der Entwickelung des Naturgefühls lassen sich bei verständnisinnigem Durchprüfen der Weltliteratur in chronologischer Reihenfolge mit leidlicher Schürfe abgrenzen. Ein Ähnliches würde sich bei eingehender Durchmusterung der Literaturen wohl auch für alle anderen ästhetischen oder sättigenden Gefühle, wie Kunstsinn, Freundschaft, Wohlthütigkeitssiun, Vaterlandsliebe u. s. w. Nachweisen lassen. Wenigstens ließe sich für das beseligendste aller Gefühle, für die von allen Poeten seit Homer und dem Dichter des Hohenliedes besungene und verherrlichte Liebe (ich meine natürlich ihre ästhetische Seite im Sinne Platons, nicht den Geschlechtstrieb) ein solcher Nachweis mühelos erbringen.
So sonnenlos und freudenleer das Menscheudasein auch gewesen sein muß, ehe man das Hochgefühl der Liebe kannte, so lehrt uns doch die Ethnographie, daß es selbst heute noch Stämme giebt, deren sonst entwickeltere Sprache keinen Ausdruck für das Gefühl der Liebe besitzt, so daß die Missionäre, die zuerst jene Stämme aufsuchteu, sich genötigt sahen, zu dem ihnen beizubringenden Gefühl der Liebe zugleich einen entsprechenden Ausdruck zu erfinden (Lubbock, cm Uw orio-in ot' oivilisatioli p>. 50). Füge ich noch hiuzn, daß es sich hier um Stämme handelt, welche bereits die Rechtsinstitntion der Ehe kennen, so beweist dies klürlich, daß letztere weit älter ist als das Gefühl der Liebe.
Hier stoßen wir nun auf den Ursprung der Familie. Manche unter Ihnen wird es sonderbar anmuten, daß ich die Ehe, die man sich als unverrückbare Basis der Familie vorzustellen pflegt, hier als etwas Gewordenes, historisch Entwickeltes hinstelle. So befremdlich es klingt, so ist es doch wissenschaftlich festgestellt, daß die Urmenschen — vom halb mythischen Malus ganz abgesehen — ein festes Eheverhältnis — auch kein polyandrisches oder polygames — gar nicht gekannt haben, daß die Ehe vielmehr als bewußte Institution sich erst ganz allmählich heransgestaltet hat. Wer sich freilich den Entwickelungsgedanken zu eigen gemacht hat, dem wird dies nichts weniger als auffällig erscheinen; denn da alles in letzter Linie auf Entwickelung beruht, dann natürlich auch das Institut der Ehe.
Wir werden bei der Betrachtung der Urgeschichte überhaupt gut thuu, den Stolz auf unser Menschentum auf ein recht bescheidenes Maß herabzudümpfen. Die Entwickelungsgeschichte lehrt uns nämlich, daß der Mensch seiner Abstammung nach kein gefallener Engel, d. h. heruntergekommener Aristokrat ist, wie man früher geglanbt hat, sondern daß er umgekehrt ein allmählich zu Ansehen gelangter Emporkömmling ist. Der Urmensch war nicht wie sein heutiger Nachkömmling der Beherrscher des Tierreichs und der ganzen Natur, vielmehr ein höchst bedauernswertes, jammerseliges Geschöpf, das auf Bäumen lebte, um sich so vor den Angriffen noch wilderer und erheblich stärkerer Tiere zu schützen. Und wenn neben der mythendichteuden Bolksphantasie auch wissenschaftliche Köpfe den Urmenschen in eine paradiesisch üppige Natur versetzt haben