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Deutschland.
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hernach an. Auch macht sich bei den Betroffenen noch jahrelang jedesmal bei anftretendem Gewitter eine gewisse nervöse Unruhe bemerkbar. Oft bestehen die Lähmungen der Gliedmaßen noch längere Zeit nach dem Ereignis fort, gehen aber schließlich immer in Heilung über. Dasselbe gilt auch von den anderen durch Blitzschlag verursachten Krankheiten, wie Taubheit, Erblindung, Gefühllosigkeit oder auch hochgradige Empfindlichkeit, Verlust der Haare und Nägel, Blutungen aus Nase oder Ohren, Schlingbeschwerden, Stuhl- oder Harnverhaltung u. a. m.
Es ist demnach ersichtlich, daß der Blitzschlag, auch wo er nicht unmittelbar tödlich wirkt, immerhin für den Betroffenen ein sehr böses Ereignis darstellt. Um so wunderbarer ist der alte Glaube an die „heilende" Wirkung des Blitzes, und es fehlte nur noch, daß verzweifelte Kranke, an deren Leiden die irdische ärztliche Kunst bisher gescheitert ist, zu diesem letzten himmlischen Mittel ihre Zuflucht nähmen. Die Sache hat allerdings etwas Verführerisches an sich im Hinblick auf die Heilkräftigkeit der Elektrieitüt überhaupt; die Gefahr einer solchen natürlichen Elektrotherapie könnte man vielleicht mit der Bemerkung abthun, daß der kranke Mensch sich ja auch sonst zuweilen Operationen aussetzen muß, deren Ausgang in Bezug ans Erhaltung des Lebens sehr fragwürdig ist. Indessen, bis der Blitz als aktive Waffe in den Arzneischatz ausgenommen werden wird, dürfte wohl noch eilte geraume Zeit vergehen. Ohne Einwilligung des Kranken und des behandelnden Arztes dagegen soll er sich ja schon einige Male knrpfnscherische Eingriffe in das Gebiet des letzteren erlaubt haben. So berichtet der französische Arzt Boudin von einem durch Blitzschlag geheilten Fall von Körperlühmung. Sein landsmännischer Kollege Chailly ferner hat die Krankengeschichte eines Kondukteurs veröffentlicht, der seit fünf Jahren an rheumatischen Beschwerden litt, sich aber sofort gänzlich schmerzfrei fühlte, nachdem er von einem Blitzstrahl getroffen worden war. Doch auch der deutsche Arzt Kunze hat vor wenigen Jahren einen Fall veröffentlicht, wonach eine durch einen Schlaganfall rechtsseitig gelähmte und dabei auch noch fast gänzlich des Sprachvermögens beraubte Person bei einem Gewitter auf der rechten Seite vom Blitz getroffen wurde und danach bedeutende und augenfällige Besserung ihres Zustandes erlangt haben soll. Auch der Kreis- physikus Ludwig in Euskirchen berichtet von einem vom Blitz Getroffenen, dessen Sehkraft dadurch sich bedeutend verbesserte. Derartige Heilnngsvorgünge gänzlich in das Gebiet der Fabel zu verweisen, dürfte demnach nicht angängig sein, und es bleibt nur zu wünschen, daß von einwandsfreier Seite weitere diesbezügliche Beobachtungen mitgeteilt werden möchten. Aber auch sonst harren noch viele dunkle Punkte dieses ganzen Gebietes der anfklürenden Arbeit zukünftiger Zeiten.
Ksntomimr.
Von
Kevmcrnn WcrHr.
/^T^ie Pariser Theater wissen sich bald nicht mehr zu helfen: keine Spekulation schlügt ein und keine Reklame zieht, das Publikum ist müde und verdrossen, die Not brennt in den Kassen. An dem fetten Wucher aus der llixpomtion IInivoElle haben sie sich über diesen zum Verschmachten dürren Winter geschleppt, geduldig von Woche zu Woche vertagter Hoffnung. Aber jetzt, allmählich, da kein erfinderischer Versuch mehr wirken will und alle listigen Neuerungen im Kreise herum erschöpft sind und der gemeine Überdruß nur täglich wächst, jetzt verlieren sie das letzte Vertrauen, es wird ihnen bange und sie wissen sich keinen Rat. Ein Wunder müßte geschehen; aber nirgends, jammern sie, regt sich ein Zeichen, das es verkündigen dürfte. Sie können, mit allem
bereiten Gehorsam, das Nene nicht gewähren, das die dunkle und verhüllte Laune des Geschmackes fordert; und wieder das Neue, das sie in wechselraschen Sorgen versuchen — von diesem mag jene verwöhnte Begierde jedesmal wieder nichts hören.
Der Naturalismus hat alles alte Theater gründlich verekelt, heillos — das ist die Signatur der theatralischen Situation von heute. Kein Mensch läßt sich die überlieferte und hergebrachte Formel mehr gefallen. Der dicke, alte Sareey selbst, das widerspenstige, nicht leicht gerührte Ungetüm, frivoler Neuerungssncht kaum verdächtig, schnauft verräterische Seufzer nach der neuen Kunst.
Aber — es muß nur ehrlich gestanden werden: er konnte das alte Theater verderben, aber ein neues an seinem Platze zu gestalten mißriet dem Naturalismus vorläufig. Als niederschmetternde Beleidigungen der alten Kunst, von denen sie sich nicht mehr erholen würde, wurden seine Werke bejubelt; aber die nachhaltige Befriedigung des neuen Geschmackes, welche ihn von der irren Sehnsucht nach dem Unbekannten endlich erlösen könnte, brachten sie noch nicht. Er mochte manchmal, wie an den sunklen Paradoxen des «lVIonmour 1wt8 v,» seine jähe Begierde eine Weile beruhigen; aber dann loderte sie doch gleich nur desto wütiger wieder empor.
Ob ihr ein Heiland kommen wird .... wann . . . . woher?
Einstweilen peitscht die Not die Direktoren von Experiment zu Experiment — wo immer nur etwas sich für neu ausgeben und den verbrühten Gaumen noch einmal würzen könnte. Jeder Vorschlag ist in dieser wilden Hast willkommen und jede vergessene Caprice der Großväter wird ausgegraben. So konnte es sich ereignen, daß ans der rostigsten Rumpelkammer längst verschollener Moden die bestaubte und vergessene Pantomime zu sonnigem Triumphe auferstand.
Die «Uoull68» spielen seit vier Wochen Michel Carrös «I/eiiknrw procliAuo» vor täglich ansverkanftem Hause und diese von Wormser musizierte Pantomime ist der größte Erfolg der ganzen Saison.
Damit hat der Haufe des großen Publikums ein Urteil bestätigt, welches seit ungefähr zwei Jahren sich unter den Feinschmeckern der Kunst verbreitete. Seit zwei Jahren, beiläufig, spielt der Oerele liuuuu>»u> 08 ^u<-, eine Gesellschaft von künstlerischen Leckermäulern und Lebemännern der Litteratur, eine Pantomime, mit wachsendem Glück, um die andere: Pank Margnerites «1a Oolonckiins xarclonima» und Raonl de Najacs «1a LarUe-Ulanetve» hängen mir namentlich als die gefälligsten Treffer im Gedächtnis. Alle Meinungen waren bald geeinigt, daß von allen überlieferten Formen der alten Litteratur die Pantomime die einzige sei, welche sich der moderne Geschmack mit Behagen gefallen lassen könne; nun klatscht auch noch die Menge ihre Einstimmung dazu.
Diese allgemeine Empfindung, daß von allem Alten bloß die Pantomime allein mit unserer neuernngstollen Laune verträglich sei, kann ich garantieren. Alle Wundern sich darüber, finden sie seltsam und witzeln gegen sich selber; aber ,in allen ist sie nun einmal nnweglengbar vorhanden. Dagegen die Formel, wie ich mir ihre Herkunft und Berechtigung erkläre, die mag ich freilich bloß als eine scheue, nnzutrauliche Vermutung meiner Verlegenheit behaupten.
Unser Geschmack, der sonst gegen alle theatralische Tradition, wie milde und fügsam sie sich auch gehabe, zu nachgiebigen Zugeständnissen willig bereit, mit ungebärdigem Hohne oder gar mit rebellischer Langweile revoltiert, läßt sich die Pantomime gelassen gefallen, weil sie allein jede Beleidigung seines Wirklichkeitssinnes vermeidet. Wir sind nun einmal, widerwillig oder mit Fleiß, von starken Trieben an die wirkliche Welt gedrängt, und zu rascher Reizbarkeit neigt leicht unser realistisches Gefühl. Was Menschliches auf die Bretter steigt, das prüfen wir grausam auf den Gehalt von Alltags- Wahrheit, und jedes Verlogene, was mit unseren gesammelten Erfahrungen nicht stimmt, wird ohne Erbarmen verpfiffen und weggezischt. Es ist ungeschickt, ja, wir vergällen uns bloß