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Deutschland.
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manches Vergnügen. Aber mit allen Vorsätzen und guten Ratschlagen wird uns nicht geholfen, es steckt uns einmal unvcr- windlich im Blute: wir sind eben schon allesamt, auch die es nicht Wort haben wollen, bis ins Mark durch die zehn Jahre Naturalismus unheilbar verdorben.
Mit diesem Sinne des Wirklichen, welcher uns alle andere Tradition der Kunst zur Ungenießbarkeit verleidet, verträgt sich die Pantomime vortrefflich. Nämlich, die Pantomime handelt nicht von: Menschen, sondern von Pierrot, und sie kündigt es uns von allem Anfang im voraus an, rechtschaffen und ehrlich, daß ihre einzige Heimat, welche sie keinen Augenblick verlassen will, das Phantastische ist. Sie hat mit dieser täglichen Straßenwirklichkeit rings um uns nichts zu schaffen, sondern lebt in einer anderen, fernen, nnterwölkten Sternen- wirklichkeit, von welcher wir nichts wissen und die Lüge nicht unterscheiden können. Sie hat in ihrer Willkür ihr eigenes Gesetz, welches gegen unsere irdische Wahrhaftigkeit nicht verstößt, weil es neben ihr auf einer ganz anderen Seite verweilt, drüben und weit weg.
An Beispielen wird man sich dessen ganz deutlich bewußt.
Wenn da einer hereingeschneit kommt, in Kleidern der Gegenwart, um von jenen Monologen der Orientierung einen loszulasseu: „Drei Wochen bin ich, der sonst so flatterhafte Falter, den keine Sireuenkunst ins Netz zu locken wußte, nun hier auf dem Schlosse der Gräfin Fernande. Aber Fräulein Marthe ist auch zu reizend, halb noch arglos träumende Knospe, halb schon die kaiserliche Triumphatorin, die sich ihrer Unwiderstehlichkeit bewußt ist, auf jeden Fall ein unvergleichlicher Engel von berückendem Zauber. Die Diener sind bestochen, alles weilt draußen auf der Jagd, ich will mich erklären" — das ist uns wie eine schallende Ohrfeige mitten ins Gesicht und es wandelt uns an, mit den Sitzbrettern dem geschminkten Wicht auf den Schädel zu zielen. Dagegen, gleich beim ersten Purzelbaum des gepuderten Pierrot, wenn er mit vom Schrecken ausgestreckten und verlängerten Grimassen sich gegen die Lauscher versichert und von den gespitzten Lippen, während ihm die wasserblauen Vergißmeiuuichtaugen aus den von überwachsener Seligkeit verdrängten Lidern quellen, verzückte Küsse nach der holden Kemenate wirft, da lacht uns gleich von saftigem Behagen das Herz, und mit Wollust schlürfen wir den tollen Wirbel seiner ausgelassenen Gebärden. Es fällt der Wahrhaftigkeit hier nicht ein, keinen Augenblick, sich störend ins Vergnügen zu mischen, mit realistischer Kontrolle: denn hier ist es ausgemacht und vorbedungen, jeder merkt's auf den ersten Blick, daß von der grauen Wirklichkeit überhaupt gar nicht erst die Rede sein, sondern sofort in moosgrüne Phantastik lustig ausgeflogeu werden soll, bis nach den steilsten Unmöglichkeiten verwegen hinauf, munter in vollen Märchen bis an den Hals.
Unser Trieb auf das Wirkliche, den wir nun einmal nicht mehr verwinden, wird von der Pantomime nicht beleidigt, die sachte und höflich an ihm daneben vorbeigeht; aber unser Trieb auf das Phantastische, dessen täglich begehrlicherer Hunger gegen die Alleinherrschaft des Naturalismus* täglich grimmiger revoltiert, wird von der Pantomime allein heute befriedigt. Es nützt einmal nichts: jene Begierde nach dem Wahne, nach dem Traume, nach der Trunkenheit ist auch in uns, unausrottbar, wie wir immer uns mit erbittertem Verstände wehren mögen, nach aller gewaltsamer Bedrückung immer nur wieder aufs neue mit frischem Mute regsam, von der nämlichen Zwingkraft auf uns wie die andere nach der nüchternen und wachen Wahrheit. Und die Formel, in welcher das neue Bedürfnis ganz aufgehcu soll, daß seiner irren Hast endlich Friede werde, die große Formel des gesamten modernen Geschmackes wird auch eine opiatische Note enthalten müssen.
Doch dahin hat's noch gute Wege, diesseits und jenseits der Vogesen, nach der neuen Kunst, von der so viel die Rede und gar so wenig die That ist. Aber wie wäre es, wenn
* Es ist in diesem Aufsatz nur von französischen Zuständen die Rede.
wir einstweilen, in dieser langen und schon langweiligen Pause zwischen dem alten, welches nicht mehr erträglich, und dem neuen Theater, welches noch nicht erfindlich ist, wenn wir einstweilen dem Beispiele der Pariser versuchsweise folgten und auch einmal unser Glück mit der Pantomime probierten? Ich denke sie mir von Lilieucron geträumt und von dem genialen Hugo Wolf vertont, und Böcklin müßte ihre Bilder stellen — und nach sechs Wochen, ich wette, wären die drei ganz phantastisch riesige Millionäre, auf goldenen Stelzen der schauenden Bewunderung entrückt und von eifelgetürmtem Ruhme unter die seligen Engel entführt.
ZVilüe Hosen.
Stimmungsbild von Keinz Hovote.
(^^ie Sonnenstrahlen füttern durch das Gewirr der breit- blättrigen Weiurauken, die sich um die Holzsäulen der kleinen Veranda winden, und deren maschiges Blütternetz, vom herannahenden Herbste rötlich überhaucht, sich zwischen den leichten Stützpfeilern des Balkons ausspannt, unter dem eine anheimelnde Dämmerung herrscht.
In einem amerikanischen Schaukelstuhle liegt eine junge Frau, die Hände lässig im Schoß gefaltet; und während sie durch sich in regelmäßigen Pausen folgende Stöße mit der Fußspitze den Stuhl im Wiegen erhält, blickt sie auf die ineinander verschwimmeuden kreisrunden Lichtflecke, die auf dem bunten Fliesenboden von den Strahlen der frühen Morgensonne gebildet werden.
Sie zieht die Schultern in der weißwolluen algerischen Gandura hoch, und sich reckend, daß der Schankelstuhl mit Plötzlichem Ruck still steht, hebt sie die Hände über den Kopf empor, schlingt die Finger ineinander, und die Handflächen nach oben kehrend, streckt sie leis gähnend die Arme gen Himmel, daß die losen, weiten Ärmel des Gewandes bis fast zu den Schultern zurückfallen.
Dann läßt sie die Hände wieder müde auf die Kniee fallen und träumt vor sich hin, die feinen dunklen Augenbrauen etwas zusammengezogen; während die kleinen Füße fest auf dem Boden ruhen und der geschmeidige Oberkörper leicht nach vorn gebeugt ist.
Das Mädchen kommt; aber die junge Frau blickt nicht auf, während der Frühstückstisch abgerüumt wird. Selbst das Klappern der Teller und Tassen vermag sie nicht zu stören.
Dann ist es wieder still . . . Nur von einer Nebenvilla dringen einzelne angeschlagene Töne eines Klaviers herüber, und dann die falsch gespielte Melodie: Ach ich Hab . . . sie ja nur . ..
Da bricht das Spiel wieder ab. —
Es ist still ringsum. Das welkende Weiulaub duftet so scharf.
Zuweilen klirrt ein Messingstab, wenn der graue Papagei mit seinem Schnabel gegen das Gitter seines großen gelben Messingbauers stößt.
Daun kreischt er wild auf, daß sie zusammeuschreckt. —
Im Balkonzimmer füllt eine Thür zu. Daun langsam näher kommende Schritte. Ihr Gatte in Hut und Mantel, den Stock unter dem Arme, mit dem Zuknöpfen des linken Handschuhs beschäftigt.
Es ist dreiviertel zehn, und wie gewöhnlich ist er im Begriff, von Wannsee nach Berlin zu fahren.
„Nun, Kindchen . . . was wirst Du denn heute thuu . . ."
Er fragt cs gleichgültig lässig.
„Interessiert Dich das wirklich so?" fragt sie lächelnd, weil sich diese Frage tagtäglich wiederholt.
„Ei gewiß — ich muß doch wissen ... ob sich mein Frauchen ... na! — nicht langweilt . . . so!" —