Heft 
(1988) 45
Seite
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vergangen, ohne daß sich irgendetwas in der Lebenssituation des jungen Ehe­paars geändert hätte. Damit wird auf die Unbeweglichkeit ihres Daseins ver­wiesen und zugleich Käthes charakterliche Starre und Eingleisigkeit erhellt. Käthe lacht nach wie vor und besitzt die gleiche unbekümmerte Laune und Oberflächlichkeit. Durch diese intensiven Hinweise auf Zeitläufe wird auch gezeigt, daß es Botho in dreieinhalb Jahren nicht gelungen ist, sich innerlich von Lene zu lösen. Immer wieder drängen sich Erinnerungen an die glück­liche Zeit ihrer Liebe auf, immer wieder hält seine junge hübsche Frau einem Vergleich mit Lene nicht stand.

Das Raum-Zeit-Empfinden einer Figur ist unmittelbarer Ausdruck ihrer inne­ren Befindlichkeit, deutet subjektive Entscheidungen an und zeigt Motive des Handelns. In solch eine Entscheidungssituation wird Botho von Rienäcker durch den Brief seiner Mutter (Kap. 14) hineinversetzt. Seiner großen Erre­gung versucht Botho im Monolog Herr zu werden. Der Raum wird ihm damit zum indirekten Gesprächspartner. Der ihn umgebende Raum erscheint in bedrückender Enge, und mit dem Ritt ins Freie flieht Botho vor dieser räum­lichen Übermacht. In einer natürlichen Umgebung soll der Konflikt ausge­tragen werden. Das Ausreiten in seiner Dynamik ist ganz direkter Ausdruck der geistig-emotionalen Bewegtheit des vor der Entscheidung Stehenden. Botho passiert zuerst Berliner Lokalitäten, die in ihrer Exaktheit und objek­tiven Gegenständlichkeit lediglich als lokale Fixpunkte zu betrachten sind und keinerlei Stimmung erzeugen. Das Interesse des Erzählers ist nur auf den Reiter, auf dessen innere Vorgänge gerichtet. Botho nimmt der Bewegung die Dynamik, indem er das Pferd vom Trab in den Schritt verfallen läßt. Die anfängliche unkontrollierte Erregung wird in einem Prozeß des Nachdenkens rational aufgefangen und steuerbar. Das führungslose Pferd bestimmt vorerst Richtung und Geschwindigkeit des Rittes, und es entsteht der Eindruck einer gewissen Ziellosigkeit. Alle äußeren akustischen und optischen Reize sowie bestimmte Raumsymbole werden von Botho mit überwachen Sinnen registriert und direkt in seine Entscheidungsfindung einbezogen. So kann man deutlich eine Verquickung des inneren Monologs, der äußeren Zeichen und der Ent­scheidung bemerken. Als erstes unterbrechen Kanonenschüsse und das unruhig gewordene Pferd den Gedankengang, in dem sich Botho entschieden zu seiner Liebe bekennt. Doch wird dieses Bekenntnis zu Einfachheit, Wahrheit und Natürlichkeit durch das Stutzen des Pferdes abrupt unterbrochen. Die Begeg­nung mit dem Hinckeldey-Denkmal ist für Botho ein äußerst bedeutungs­volles Zeichen, das seine weiteren Überlegungen grundlegend motiviert und die Richtung der Entscheidung bereits andeutet. Dieses Denkmal beschwört eine ähnliche, zwanzig Jahre zurückliegende Situation herauf und wird auf die individuelle Lebenssituation bezogen.Was predigt das Denkmal mir? Jedenfalls das eine, daß das Herkommen unser Tun bestimmt. Wer ihm ge­horcht, kann zugrunde gehen, aber er geht besser zugrunde als der, der ihm widerspricht." 10 Diese Erkenntnis wird zwar durch das Raumsymbol motiviert, ist aber in der Subjektivität und Moral Bothos schon begründet. Das Denkmal historisiert somit den Naturraum und stellt bewußt die Entscheidung Bothos in ein gesellschaftliches Umfeld. Genau im Moment der Erkenntnis unterwirft Botho das Pferd wieder seiner Kontrolle. Die nun zielgerichtete Bewegung ist Ausdruck gewonnener innerer Festigkeit. Ein äußerer Anstoß, der die

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