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Deutschland
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den Armen ans, stnnd rasch ans und fing ungleich an auf und nieder zu gehen.
Und wie die Nacht verblich und der Morgen kam, wurde Sigrid mehr und mehr eine andere in seinen Augen. Es war, als glitte ihre Körperwärme von ihm weg, wie eine Umarmung, die zu lange gedauert. Was liebte er an ihr, als ihren jungen, frischen Leib? Ihre Seele, ihre Essenz als Weib —? kannte er sie, hatte er sie je zu fassen bekommen? Wenn er versuchte, sie zum Klingen zu bringen, hatte er jenen tiefen vibrierenden Metallklang der Resonanz gefühlt, der denselben Ton sofort und stärker, wie unter einem Beben zurückwirft — ?
Seine Gedanken hörten ans sich klar zu formen, er versank in Brüten, währenddessen es manchmal leise in ihm zuckte. (Schluß folgt.)
Der neueste religiöse Spleen.*
Von
Kcrrrs Werner.
ekanntlich neigt die angelsächsisch-normannische Völkermischung, welche England zur Heimat hat, trotz aller berechnenden Kaltblütigkeit, welche ihr sonst innewohnt, zu allerhand Extravaganzen, eine Eigentümlichkeit, deren verschiedene Erscheinungsformen man unter dem Gesamtnamen „Spleen" zusammenfaßt. Dieser Spleen tritt so ziemlich auf allen Gebieten der menschlichen GeistesthÜtigkeit in die Erscheinung, es wäre darum verwunderlich, wenn die religiöse Seite, auf welcher den Engländern ohnehin eine gewisse Neigung zur Bigotterie innewohnt, davon unberührt geblieben sein sollte.
Verbindet sich nun gar diese anglikanische Absonderlichkeit mit der dem deutschen Stamme beiwohnenden Neigung zum Grübeln und Spintisieren, so sind das Produkt dieses Bundes die wunderlichsten Erscheinungen auf dem Gebiete christlichreligiöser Anschauungen. Den unwiderleglichsten Beweis hierfür haben wir in der Unzahl von religiösen Sekten, welche in der Hauptwohnstätte des englisch-deutschen Geistesbundes, der nordamerikanischen Union, an die Öffentlichkeit getreten sind und neu zu erstehen nicht anfhören. Man vermag keine noch so korrupte Idee in religiösen Dingen sich auszutüfteln, die nicht auf dem Gebiete des Sektenwesens dort Gestalt und Leben gewonnen Hütte.
Freilich — und wir dürfen sagen: zum Glück — finden die meist einem höheren oder geringeren Grade religiöser Überspanntheit ihren Ursprung verdankenden Sekten in der Regel nur eine gemessene Zahl von Gläubigen, und sie tauchen oft genug bald nach ihrem Entstehen wieder unter in das Meer der Vergessenheit. Ihnen genauer nachzuspüren würde darum ein Bestreben sein, bei welchem nur auf ein geringes Interesse zu rechnen wäre.
Anders hingegen steht es um eine neuerdings immer mehr Verbreitung gewinnende Sekte, welche in gewissem Sinne als eine Gefahr für die menschliche Gesellschaft angesehen werden muß. Es ist dies die „Gemeinde der christlichen Wissenschaft," welche in den größeren Städten der Union bereits eine ansehnliche Zahl von Anhängern — man spricht von über 60000 — gefunden hat. Gerade weil diese „Gemeinde" alle Anlagen besitzt, um einen gemeingefährlichen Charakter anzunehmen, möchte es sich verlohnen, ihr einige Aufmerksamkeit zuzuwenden.
* Aus Canustadt wird gemeldet, daß daselbst ein adeliges Fräulein eine Anstalt gegründet habe, in der wieder einmal alle Krankheiten durch Gebet und Händeauflegen geheilt werden sollen. Es scheint, daß es der oben geschilderte religiöse Wahnsinn des Lstü-sünn ist, der in der Cannstadter frommen Klinik bei uns Boden gefunden hat. D. Red.
Die Anhänger dieser Gemeinde behaupten nämlich — nicht wenige von ihnen glauben es wohl auch zuversichtlich — die Gabe der Heiligung zu besitzen, wie sie seinerzeit den Aposteln innegewohnt haben soll. Sie erklären deshalb: „Es giebt keine Krankheit; diese ist ein Wahn, ein Spiel der Einbildung, und durch andauerndes eifriges Gebet kann jede Krankheit bezwungen werden." Das Wort der Offenbarung Johannis Kap. 21, 4: „Und Gott wird abwischen alle Thrünen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerzen wird mehr sein; denn das erste ist vergangen," ist nach ihrer Meinung der Erfüllung nahe. Jede Art von Krankheit glauben sie durch Gebet, Salbung und Handauflegen heilen zu können. Ja sie glauben das nicht nur, sondern behaupten es als ganz gewiß. Voraussetzung bei dieser Heilung ist freilich, daß der Kranke von dem vollen Glauben an die göttliche Begnadung des Heilenden beseelt werde; anders hilft's eben nichts.
Bereits im Jahre 1881 begründete eine Frau Eddy iu Boston eine Schule für „christliche Wissenschaft," welche zahlreiche Anhänger fand; ihr folgte in New-Ivrk Frau Mary Plumkett unter dem Beistände ihres Gatten, denen I)r. Mason und Dr. Eastman helfend zur Seite stehen. Da man in Amerika auch bei den frömmsten Ünternehmungen ohne die Lürmtrommel der Reklame nicht fortznkommen vermag, wurden zwei Zeitungen begründet, welche, unterstützt von wohlhabenden Gläubigen, für die Lehre Propaganda zu machen bemüht sind.
Verwunderlich wäre es gewesen, wenn dieses seltsame Produkt religiösen Spleens nicht in dem so vortrefflich gedüngten Boden des englischen Mutterlandes Wurzel geschlagen Hütte, und dort ist denn auch ein Pflünzlein aufgeschossen, welches in seinen Zumutungen an die Naivetüt der Menschen allem Denkbaren die Krone aufsetzt. In London ist nämlich vor einigen Jahren bereits ein Institut entstanden, — gewissermaßen eine Hochschule der „christlichen Wissenschaft" — welches den Namen Letlr-Zllan führt und in welchem — selbstverständlich gegen hohe Pension — Kranke Ausnahme finden, die von den mit der Gabe des heiligen Geistes besonders reich ausgestatteten Vorstehern und Vorsteherinnen Heilung ihrer Leiden erwarten. Unter Anwendung eines möglichst eindrucksvollen Apparates wird dann bei brünstigen Gebeten und unter Handauflegen die Heilung versucht. Ob sie wirklich gelingt, ist freilich eine andere Frage; allein auch für den Fall des Mißlingens hat man sich eine plausible Erklärung zurechtgemacht. Entweder hat alsdann der Kranke nicht den rechten Glauben an die göttlichen Eingebungen seiner Helfer, oder aber, wenn er trotz Gebet und Handauflegen gar stirbt, dann heißt es: Des Kranken Seele habe sich gerade in dem geeigneten Zustande befunden, um in das Hümnelreich ausgenommen zu werden, daher sei er eben jetzt abbernfen worden.
Indessen die Macht des heiligen Geistes, welche den Vorstehern von Ustll-Lllan innewohnt, ist keineswegs darauf beschränkt, Anwesende von ihren Leiden zu befreien; o nein, das Vermögen reicht sogar so weit, daß sie selbst iu a1>86utin Heilungen zu bewirken die Kraft besitzen, der Kranke möge sich nun in einer Entfernung von einer, zehn oder tausend Meilen von dem Heilenden befinden; ja selbst wenn er sich auf dem Monde oder sonst einem Stern des Weltalls aufhielte, könnte die göttliche Heilkraft ihm Nutzen bringen. Allerdings ist es notwendig, daß derjenige, der für den abwesenden Kranken Heilung erbittet, unbedingten Glauben an die Macht des Heilenden besitze — bekanntlich macht ja eben nur der Glaube allein selig.
Wer nun meinen wollte, daß nur geistig Beschränkte sich zu dieser kolossalen Höhe des Glaubens emporzuschwingen vermöchten, der befindet sich in gewaltigem Irrtum, vielmehr rekrutieren sich die Gläubigen von Letll-bllau gerade aus den gesellschaftlich am höchsten stehenden Kreisen Englands, und hier ist es vornehmlich das weibliche Geschlecht, welches diesem religiösen Sport am meisten Geschmack abzugewinnen pflegt. Wir könnten mit Namen aus der höchsten Aristokratie auswarten. Indes fehlt das Acmns niasaulinuni dabei keineswegs,