Heft 
(1889) 48
Seite
774
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Deutschland.

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Frauen in ihrer Verteidigung fast ganz allein auf sich ange­wiesen, und ihre wesentlich dem dunkeln Drange, dem unbe­stimmten Gefühl des Berufenseins entnommenen Argumente konnten vor dem kolossal gelehrten Rüstzeug der gegnerischen Professoren, vor den Ausführungen über Schädelbildung, Ge­hirnwindungen, Anpassung und Vererbung nicht stand halten. Wir aber, die wir keine Theoretiker zu sein brauchen, müssen den Beweis dafür, daß die Frauen gelehrte Bildung erlangen können, ganz einfach durch die Thatsachen als erbracht an- sehen, gleichgültig, ob wir damit sympathisieren oder nicht. Das letzte Jahrzehnt hat die erdrückenden Beweise in allen Ländern der civilisierten Welt zu Bergen gehäuft.

Mit einem Einwurf müssen wir uns noch beschäftigen. Man sagt, wenn die Frauen hinlänglich begabt erscheinen, so viel Wissensstoff in sich aufzunehmen, um mit Ehren ein Doktor- oder ein Staatsexamen zu bestehen, so ist es doch mit ihren wissenschaftlichen Leistungen schwach bestellt. Ihre rezeptive Kraft mag genügen, ihre produktive Kraft ist gleich Null. Sie können die Wissenschaft vielleicht dem Gedächtnis einprägen, sie können sie aber nicht fördern und vermehren. Ein weiblicher Darwin ist undenkbar.

Vorausgesetzt, es verhielte sich so. Was bewiese das? Studiert man nur, um die Wissenschaft produktiv zu fördern? Wie groß ist der Prozentsatz der jungen Männer, die die Fähigkeit, ja nur die Absicht haben, durch ihr Studium zu wissenschaftlichen Leistungen zu gelangen? Schickt der Beamte seinen Sohn auf die Universität, damit dieser in seinem späte­ren Leben ein wichtiges Grundgesetz der Wissenschaft oder da­mit er eine einträgliche und geachtete Lebensstellung finde? Nenn Zehntel aller studierten Männer vermehren die Wissen­schaft um keines Haares Breite, sondern verwerten sie und verwerten sie in Ehren als Richter, als Ärzte, als Lehrer. Sie machen einen Beruf aus ihr, sie ist ihnen die milchende Kuh, nicht die hohe, die himmlische Göttin. Kein Physiologe hat ihnen das Recht zum Studium abgesprochen, weil sie aus der Wissenschaft einen Beruf macheil, d. h. weil sie ihr rezeptiv, nicht produktiv gegenüberstehen. Nun wohl, warum soll den Frauen nicht recht sein, was den Männern billig ist? Sind sie im stände, den wissenschaftlichen Stoff rezeptiv zu verarbei­ten, ihn zur Grundlage eines Berufs zu machen, warum ihnen diese Möglichkeit verwehren, da die täglich schwieriger werdende soziale Notlage sie dazu zwingt, ihre wirtschaftliche Erwerbs­fähigkeit in breiterer Entfaltung zu bethätigen?

Mir scheint, die Fragestellung: Können Frauen stu­dieren? ist nicht mehr zeitgemäß, sie ist veraltet. Angesichts des unausgesetzten Drängens der Frauen nach den gelehrten Berufen hin dürfte man eher die Frage anfwerfen: Müssen Frauen studieren? Natürlich wird man die Frage in dieser Allgemeinheit verneinen. Auch die Männer müssen nicht stu­dieren. Aber man kann sich doch den Fall denken, daß, so wie die heutige Gesellschaftsverfassnng den Söhnen gewisser Klassen gleichsam die Pflicht auferlegt, das Gymuasium durchzumachen, eine zukünftige Gesellschaftsgruppiernng die gleiche Pflicht auch den Töchtern gewisser Schichten auszwünge. Das Bedürfnis nach Bildung wächst mit der Zeit, wie das Bedürfnis nach Licht, nach Komfort, nach Elektricitüt. Eine zukünftige Gym­nasialbildung der Mädchen würde von der heute üblichen Töch- terschulbildnng nicht weiter abstehen, als diese von der Mäd­chenbildung entfernt ist, die in bürgerlichen Kreisen vor hundert Jahren üblich war. Alle Bildungsstufen, die allein der geisti­gen Kultur, nicht der geistigen oder wirtschaftlichen Produktion dienen, sind nur dem Grade, nicht dem Wesen nach verschieden. Wie viele Landedelleute z. B. bringen eine Reihe von Semestern auf Universitäten zu, nicht um sich auf eiueu gelehrten Berns vorzuberciten, sondern aus Laune, vielleicht aus gesellschaftlicher Eitelkeit, vielleicht aus Freude an höherer intellektueller Aus­bildung. Könnte man sich nicht einen gesellschaftlichen Zustand denken, in welchem eine gleiche höhere Ausbildung, allein einer musischen Geisteskultur zuliebe, auch den Frauen offen steht? Gerade wenn man vom beruflichen Studium absieht, bekommt

man die Frage, ob Frauen zur gelehrten Bildung befähigt sind, rein in die Hand. Hierbei ist immer noch nicht von wissenschaftlicher Produktion die Rede, sondern von bloßer re­zeptiver geistesbildender Thätigkeit. Kann die Frau eine höhere wissenschaftliche Ausbildung ertragen, ohne daß ihre specifisch weiblichen Eigenschaften, auf denen ihr Menschenwert beruht, verloren gehen? Oder ist sie mit dem ersten Schritte auf diese Bahn der verwerflichen Blaustrümpfelei verfallen?

Diese Frage ist noch keineswegs gelöst, und ich werde mich hüten, eine Lösung L priori zu versuchen. Auch hier gilt das Wort: Thatsachen beweisen. Ich werde weiter unten auf die beiden jüngsten Thatsachen dieser Art zurückkommen. Vor­weg allerdings möchte ich an eine uralte Erscheinung erinnern: die intensive Beschäftigung mit der abstrakten Wissenschaft hat zu allen Zeiten viel echtes Menschentum zu Grunde gerichtet. Wir bedürfen dafür keine weiblichen Belege, das tausendjährige Zeugnis männlicher Pedanterie spricht beredt genug. Der Ge­lehrten, die über einer unfruchtbaren und nutzlosen Bücherweis­heit ihre harmonisch gestimmte Menschlichkeit verloren, gab es immer eine große Zahl. Aus reich begabten, frischen, lebendig fühlenden Knaben wurden pergamentne, ausgetrockncte Mumien ohne Seele, ohne Geist, ohne Phantasie. Aus grünen viel­versprechenden Keimen erwuchsen dürre, saftlose, professorale Pflanzen, weil sie nicht von der Sonne des Lebens, nicht von der frischen Luft reiner Menschlichkeit, sondern von dem Licht der Stndierlampe und der einschnürenden Atmosphäre einseitig abstrakter Geistesthütigkeit emporgezogeu wurden.

Daß diese Gefahr bei Frauen noch größer ist und zu noch widerlicheren Erscheinungen führen kann, muß man von vornherein zngeben. Aber, wie gesagt, der Versuch entscheidet allein. Wer weiß, ob nicht im Gemütsleben der Frauen Quellen sprudeln, die wir nicht kennen, und in denen sich der Geist stets von neuem verjüngen, naiv und kindlich werden kann! In der jüngsten Zeit haben sich die beiden merkwürdigsten weiblichen Doktorprvmotionen zugetragen, von denen wir bis­her gehört haben. Sie ereigneten sich beide im Juni dieses Jahres, die eine in Cambridge, die andere in Paris. In Cam­bridge trug eine schöne und hochgestellte Dame, Miß Philippa Fawcett, die Tochter des bekannten, kürzlich verstorbenen eng­lischen Postministers, den höchsten akademischen Preis über alle ihre männlichen Konkurrenten in der mathematischen Klasse davon. Und wenige Tage darauf bestand eine rumänische Dame, Fräulein Sarmisa Bilcescn, an der Ravultö cke Oroit zu Paris ihr juristisches Doktorexamen. Fräulein Bilcescn ist zwar nicht die erste Rechtskandidatin; denn Mademoiselle Popelin in Brüssel machte kürzlich ebenfalls ihre juristischen Examina; aber sie ist meines Wissens die erste Rechtsdoktoressa der neueren Zeit.

Fräulein Fawcett wird ihre mathematische Würde in keinem Amt verwerten, ebensowenig Fräulein Bilcescn ihre juristische. Zwar hoffte die Rumänin, daß die Galanterie ihrer halbasia­tischen Landsleute, die bekanntlich der unsrigen bei weitem über­legen ist, ihr eine Advokatur in Bukarest bewilligen würde; doch verbietet es das rumänische Gesetz, wie das belgische Gesetz dem revoltierenden Fräulein Popelin die Praxis verbot. Zn Bologna lehrte im Mittelalter ein junges Mädchen die Rechte an der Seite ihres Vaters. Shakespeares Portia ist ein litte- rarischer Nachktang dieses historischen Faktums. Sie war be­rauschend schön; aber ihre Gelehrsamkeit und der Reiz ihres Vortrages waren so groß, daß die Studenten darüber sogar ihre Schönheit vergaßen. Fräulein Bilcescu schreitet auf den Spuren dieses berühmten Mädchens. Auch sie ist verführerisch und sehr gelehrt; aber sie wird keine Studenten beunruhigen, nicht einmal Richter, wie die erste Advokatin in eigener Sache, von der uns die Geschichte meldet, die berühmte Lais zu Korinth. Sie kannte das Gesetz ihres Heimatlandes, das ihr eine juri­stische Praxis verwehrt, dennoch wollte sie infolge eines Ehr­geizes einen einzigen Schmuck zur Schau stelleu: ein Doktor­diplom der Rechte. Sie hatte eine sehr glückliche These ge­wählt:Die rechtliche Stellung der Mutter im römischen und