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Deutschland.
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heit — Wahrheit!" schrie es in mir — und mit frecher Hand griff ich nach ihren Gewändern.
„Wenn Ihr Hoffnungen seid," rief ich zugleich, „so müßt Ihr Euch auch verwirklichen! Wozu wäret Ihr sonst da? — Süß seid Ihr — himmlisch schön mit Euren Nosenschleiern; aber wollt Ihr mich festhalten in Euren Banden, so müßt Ihr auch ohne die Gewänder die gleichen bleiben. Fort mit den Wolken!"
Alle drei schrieen jammernd ans! — — —
Und ich? — Im ersten Moment des Entsetzens drückte ich beide Hände vor die Augen — ich glaubte geäfft zu werden! Wie? Diese dürren Gerippe, durch deren allzudurchsichtige, gelbliche Haut man die blanken Knochen Hindurchschimmern sah — das waren die süßen Hoffnungen, mit denen ich inr frohen Tanze mich gewiegt?! — Bah! — Und als ich sie noch näher betrachtete, da sah ich, daß die eine einen Höcker, — die andere einen schielenden Blick, — die dritte einen Klumpfuß hatte! — Wie verzweifelt — halb ungläubig noch lief ich von der einen zur anderen. Es konnte ja nicht sein — konnte nicht sein! Eine wenigstens — eine einzige mußte das halten, was sie nur versprochen! Aber nein — ich sah es wohl; es waren die gleichen und doch — o so andere!! „Enttäuschung — Enttäuschung — Enttäuschung!" rief ich wild ans und lachte noch höhnischer als zuvor. „Und mit Euch sollte man sich durch das Leben schleppen?! — Fort!" — Und sie schlichen von dannen — matt und gebrochen.-
(Schluß folgt.)
Ursprung und Entwicklungsformen des Eigentums.
Von
Pros. vr. Ludwig Stein (Zürich).*
(^A^ie wirtschaftliche Grundlage unserer gegenwärtigen Gesell- schaftsordnnng, das Eigentum, ist ebenso sehr Produkt eines langwierigen Entwicklungsprozesses wie die sittliche Grundlage der heutigen Familie, die Ehe. Vor mehr als hundert Jahren noch konnte der immer geistreiche Rousseau über die Entstehung des individuellen Eigentums den naiven Satz anfstellen: Das Eigentum entstand, als der erste Mensch erklärte, dieses Feld ist mein, und er Menschen fand, die Narren genug waren, ihm das zu glauben. Rousseau erschien also der Eigentumsbeginn noch als ein zufälliger Akt individueller Willkür. Die gegenwärtige Forschung über das Ureigentnm zeigt uns aber, daß wir es hier mit einem notwendigen Entwicklungsprozeß des sozialen Gewebes zu thun haben.
So ungeheuerlich und unfaßbar uns Heutlebenden auch der Gedanke erscheinen dürfte, so ist er darum nicht weniger wahr, daß die Urmenschen gar kein Eigentum, auch keinen kommunistischen Besitz, gekannt haben. Und doch würden soziale Schwärmer sehr übereilt handeln, wenn sie jenen Urzustand, da es noch kein Eigentum und infolgedessen auch keinen Diebstahl gab, mit dem Phantasten Rousseau als den glücklichen, wiederherzustellenden Naturzustand, als das von Ovid besungene goldene Zeitalter der Menschheit preisen wollten. Nur eine kümmerliche Alltagslogik wird finden, daß die Urmenschen, die auf Bäumen gelebt und sich von Wurzeln, Nüssen und anderen Baumfrüchten nähren mußten, die ferner jeden Augenblick auf ihrer Hut sein mußten, damit sie von keinem noch wilderen Tier angefallen wurden, ein neidenswertes Dasein geführt
* S. auch: „Der Sozialismus als Problem der Philosophie" in Nr. 45 und „Zur Urgeschichte der Familie" in Nr. 46 dieses Blattes.
haben, weil sie keine Bedürfnisse hatten. O nein, im Vergleich mit jenem Affendasein ist heute die letzte Hundehütte ein fürstlicher Komfort zu nennen! Bevor die Menschen den Gebrauch des Feuers erfunden hatten, war ihr Dasein nicht weniger leidensvoll als das aller übrigen Tiere. Sie hatten allerdings keine Bedürfnisse, aber auch keine Freuden, die eben nichts weiter sind als Befriedigung von Bedürfnissen. Das Bedürfnis ist der Springquell aller Kultur; denn ohne Bedürfnis keine Erfindung, ohne Erfindung keine Kultur, ohne Kultur kein menschenwürdiges, lebenswertes Dasein. Darum sollten wir uns nicht darüber grämen, daß heute in den Massen Bedürfnisse geweckt werden, die der gegenwärtige Gesellschafts- und Naturzustand unmöglich befriedigen kann. Momentan freilich bewirkt diese Anhäufung von Bedürfnissen eine Krise, weil die Natur beim heutigen Bewirtschaftnngssystem noch nicht so viel hervorzubringen vermag, alle Bedürfnisse zu befriedigen. Aber wir glauben dennoch, die Natur ist das wahre Tischlein-deck-dich. Wer die Zauberformel weiß, kann alles aus dem Boden heransschlagen, und dieses Zauberwort heißt Erfindung. Mit der Steigerung der Bedürfnisse geht die Anhäufung von Erfindungen als naturgemäßer Folgezustand Hand in Hand. Wir brauchen darum wegen des Wachstums der Bedürfnisse in den sogenannten unteren Volksschichten nicht sorgenvoll der Zukunft entgegen- znsehen; denn diese steigen nur in arithmetischer Progression, während die Erfindungen, sofern sie immer weiteren und höheren Kombinationen zur Unterlage dienen, in geometrischer Progression anwachsen.
Wenn also der Naturmensch keine Bedürfnisse kannte, dann machte er auch keine Erfindungen; die Erfindungen aber sind der Hauptquell des Eigentums. Jetzt wird es uns nicht mehr wunder nehmen, daß der Urmensch den Begriff des Eigentums gar nicht gekannt zu haben scheint. Unter Eigentum, ganz besonders unter erblichem Eigentum, verstehen wir ja ein Aufsparen von Gütern für die Zukunft, — ein- solches Aufspeichern ging beim Urmenschen, der im tropischen Klima wohnte, nicht wohl an und war zudem überflüssig. Unmöglich war es, weil der Urmensch keine Hütte, also keinen Ort zum Bergen von Gütern besaß, aber auch unnütz, da die Natur in tropischer Zone, unter welcher allein der Urmensch vor der Erfindung des Gebrauchs von Feuer gelebt haben kann, die Nahrungsmittel an Wurzeln, Kräutern, Nüssen und sonstigen Baumfrüchten so überreichlich spendete — wie uns Luft und Wasfer — daß üppigster Überfluß herrschte. Dieser Überfluß war geradezu der Hemmschuh seiner Entwicklung. Der Mensch ist eben, wie alles in der Natur, dem Gesetz der Trägheit unterworfen. Wenn die Not, d. h. das Bedürfnis, ihn nicht zum Fortschritt aufstachelt, verharrt er in seinem jeweiligen Zustande. Ünd da der Urmensch wegen der Gunst des Klimas eine Nahrungsnot nicht kannte, mag er vielleicht ungezählte Jahrtausende in diesem primitiven Wildheitszustande zugebracht haben.
Mit dem Gebrauch des Feuers, der den Menschen vermittelst des leicht zu bewerkstelligenden Fischfangs eine gewisse örtliche Unabhängigkeit verlieh, stehen wir an der Schwelle des Eigentumsbegriffs. Jetzt konnten und mußten sogar Winter- vorrüte aufgespart werden. Eine schärfere Ausbildung des Eigentumsbegriffs, etwa bis zum Fortgang von Rechtsinstitutionen oder gar zum Entstehen eines Erbrechts, dürfte auf dieser niedrigen Stufe der Wildheit wohl kaum stattgefunden haben, wie denn überhaupt dieser aufkeimende Eigentumsbegriff zunächst als ein höchst lockerer gedacht werden muß.
Eines ist jedoch sichergestellt, da es von allen Fachforschern mit einer Einstimmigkeit behauptet wird, die um so überzeugungs- krüftiger ist, je seltener eine solche gerade auf diesem Gebiete zu erzielen ist, daß nämlich die Urform des Eigentums eine kommunistische gewesen und während der unmeßbar langen Periode bis tief in die Barbarei hinein wohl auch geblieben ist. Das Privateigentum hingegen scheint eine so späte Erfindung zu sein, daß wir die Spuren desselben mit Sicherheit erst gegen den Ausgang der Barbarei d. h. an der Pforte der Civilisation nachznweisen vermögen. Die Spuren des vor-