Heft 
(1988) 45
Seite
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dazu, verbindet die Theaterbesucher aus den Unterschichten die naive Identifikation mit dem Beschauten. 12 Darüber hinaus führt sie weniger der Wille zu Repräsentation und Bildungserweiterung, sondern eine private Bezie­hung ins Theater: Pauline Pittelkow pflegt mit dem Theaterbesuch die Freundschaft mit der Schauspielerin Wanda Grützmacher, die Haushälterin Schmolke genießt ihn als Teil ihres außergewöhnlichen Ehelebens, Mutter Möhring schließlich nutzt eine Freikarte, um die Tochter bei Vorantreibung ihrer Heiratspläne zu unterstützen.

Die Aufnahme von Daten und Fakten aus dem zeitgenössischen Theaterbetrieb erweist sich als markanter Einzelfall poetischer Mimesis. Die Erwähnung illustrer Schauspieler und Dramatiker, das Gespräch über Theaterstücke oder das Zitat daraus evozieren ein unverkennbar dem 19. Jahrhundert angehören­des Bild des Theaters. Dies bestätigt der quantitative Vergleich zwischen dem Corpus zitierter Dramen mit dem Spielplan der Königlichen Theater in Berlin; diese sind als Prototyp des gründerzeitlichen Bildungs- und Repräsentations­theaters anzusehen und haben wohl auch das Theaterverständnis des Kritikers Fontane geprägt. 13 Bei 751 Stücken und rund 18 000 Vorstellungen zwischen 1870 und 1899­ 1 4 ergibt sich eine durchschnittliche Frequenz von 24 Auffüh rungen pro Inszenierung. Dabei übertreffen als Spitzenreiter die Opern Wag­ners, Meyerbeers und Mozarts die Dramen Lessings, Schillers und Shake­speares teilweise bei weitem. 1 5 Im Zitations.system' der Romane beschränkt sich Fontanes Blütenlese aus der dramatischen Literatur auf Werke hoher Erfolgsquoten; im Gegensatz zu den Spielplänen werden allerdings die Klas­siker des Sprechtheaters bevorzugt behandelt. Fontanes Methode der Ver­arbeitung vornehmlich saturierter Dramatik erstreckt sich auch auf erfolgs­gewohnte zeitgenössische Trivialautoren wem schon, außer dem Spezialisten, sind heute noch Roderich Benedix' Lustspiel »Der Störenfried", Albert Emil Brachvogels TragödieNarziß", Ernst WichertsSchritt vom Wege" oder Ernst von WildenbruchsQuitzows" bekannt, welche seinerzeit einen höheren Bekanntheitsgrad aufwiesen als die Dramen Schillers, Shakespeares und Goethes? 16 Der Wert der sich im Theaterbetrieb spiegelnden Bildungs­ideologie wird vom Erzähler in keiner der Theaterepisoden in ernsthafte Zweifel gezogen sehr wohl jedoch jener der Gordon-Leslie, Prinzessin Eleonore, Innstetten oder Jenny Treibel als Repräsentanten des vorzugsweise für das späte 19. Jahrhundert charakteristischen Bildungsphilisters. Die Er­wartungen, die der Bourgeois oder der Aristokrat mit dem Theaterbesuch verbinden, sind ausschließlich gesellschaftlicher Natur: 17 Unter dem Deck­mantel humanistischer Persönlichkeitsbildung wird der Umgang mit der Institution Theater zum fixen Bestandteil höfisch-großbürgerlicher Etikette ein Mechanismus, den die heiratswillige Corinna Schmidt und die aufstiegs­willige Mathilde Möhring, am ausgeprägtesten wohl Jenny Treibel begriffen haben.

Die Eülle des zeitgenössischen historischen Materials sie betrifft im übrigen auch die in den Romanen erwähnten Sänger und Schauspieler, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll 18 wird zum Indiz für das dem Text intentional oder unbewußt beigegebeneInteresse an intersubjektiv erfahr­barer Wirklichkeit" dergestalt, daßder literarische Genuß", wie Helmut Kreuzer dies ausgedrückt hat,und das literarische Urteil des Rezipienten mit

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