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Deutschland.
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legeritlich auch andere Leute; nicht wahr, Herr Heilmann? Eines Tages ist er verschwunden, Herr Heilmann. Dann sitzen die alten Germanen zu beiden Seiten des Stammtisches. Wo der Baron nur bleiben mag? fragt dann zuerst einer und vertieft sich in die Lösung dieses Problems. Wo er nur stecken mag? wiederholt ein anderer, und nachdem diese Frage wie ein Ball eine Woche lang hin und her geschlagen ist, werden die Mannesseelen freier, ihre Sprache wird kühner, und schließlich spricht einer das erlösende Wort: «Er hat mich angepumpt.» Und siehe, in dem ehrwürdigen Stammlokal zeigt sich plötzlich das dort bisher nie bemerkte Phänomen des Echos. «Er hat mich angepumpt!» schallt es von allen Seiten zurück. Allah ist groß und Berlin auch. Während im Westen der Fall seine Kreise zieht, bis sie im Meere der Alltäglichkeit vergehen, sitzt der Baron schon wieder irgendwo im Norden der Stadt und verwertet nach erprobtem Rezept die Vertrauensseligkeit reichgewordener Pankower Bauern."
So hatte denn Carl Heilmann dem Baron „das Reisegeld nach München" gegeben. Ob es wohl Reisegeld war? Als der Maler nach seiner Rückkunft aus dem Kultusministerium strahlenden Auges seinen Freunden im Cafö Bauer erzählte, daß ihm ein Staatsauftrag in Aussicht gestellt sei, fuhr der Baron in Miezes hellblauer Begleitung — also augenscheinlich in Familienangelegenheiten — vorüber, nicht nach München, sondern hinaus zum Hindernisrennen an den Totalisator nach Westend. Er sah sehr unternehmend aus und strich seinen schwarzen Schnurrbart wohlgefällig; aber er grüßte nicht, als Mieze ihrem Freunde Franz freundlich mit der Hand zuwinkte, sondern starrte plötzlich gedankenvoll vor sich hin. Was sollte er auch in München! In Berlin giebt es ja dasselbe Bier.
Schlesische Weber.
Von
vn. Mvurro ScHoenl'cmk.
(^Aie Zustände der schlesischen Hausweberei haben kürzlich wieder einmal zu amtlichen Erhebungen geführt, deren Ergebnis von vornherein feststand. Mit Unerbittlichkeit vollzieht sich die Auflösung der hausindustriellen Betriebsform, und dieser Untergang entbehrt nicht der stillen Tragik. In dem letzten Hefte der vom Verein für Sozialpolitik herausgegebenen hausindustriellen Studien hat vr. Gustav Lange, der sich seine wissenschaftlichen Sporen durch eine Darstellung des schlesischen Glasgewerbes verdient hat, neben anderen schlesischen Hausindustrieen auch der Lohnweberei eine so sachkundige wie eingehende Untersuchung gewidmet. Es dürfte nicht ohne Interesse sein, einige wirtschaftspolitische Daten herauszugreifen, die als urkundliche Belege für das Elend der schlesischen Weberbevölkerung sich darstellen und eben deshalb ein eindringlicher Appell an die Gesetzgebung sind, die soziale Reform nicht bloß für die Fabrikindustrie, sondern auch für die Hausindustrie aus Worten und Vorschlägen in Thaten umzusetzen.
In 29 schlesischen Kreisen ist die Weberei als Hausbetrieb verbreitet. Im Jahre 1880 zählte man im Bezirk Landeshut noch 10481 Weber; aber die gewaltige Konkurrenz der großgewerblichen Maschinenweberei vernichtet Jahr für Jahr hausindustrielle Existenzen in großer Menge, die Webmaschinen setzen einen Handstuhl nach dem anderen frei, die Produktion
geht zurück, die ökonomische Position der Handweber verschlimmert sich von Tag zu Tage. In 1880 waren in diesem Bezirk noch 5948 Handstühle in Betrieb, 1888 nur noch 4227; der Wettbewerb des pocvsr loom, des Kraftstuhls, bringt sich einschneidend zur Geltung. Kein Gebiet bleibt verschont, und so zähe auch unter erschreckenden Entbehrungen der Hausindustrielle sein Terrain verteidigt, er muß doch am Ende zu- rückweichen. Die moderne Technik schafft immer neue Verbesserungen, und was gestern noch ein Privileg der Handweberei war, das wird heute rascher, besser und wohlfeiler von den tausendfingrigen Maschinen hergestellt. So trübt sich der Horizont für die Heimarbeiter mehr und mehr, die Arbeitsgelegenheit für die in unserem Gewerbe thätigen 45570 Personen (darunter 21085 weibliche Arbeitskräfte) nimmt stetig ab.
Die Hansindustriellen sind rxur zum geringsten Teil in der Weise thütig, daß sie sich das Garn selbst anschaffen und die fertige Ware an den Händler verkaufen. Die erdrückende Mehrheit ist dem straffsten Verlagssystem unterworfen, sie arbeitet um Lohn im Dienste kaufmännischer Kapitalisten, der sogenannten Verleger, die entweder direkt oder durch den Vermittler (Faktor) mit den Webern in Verbindung stehen. Die Abhängigkeit des Webers vom Verleger ist eine absolute; er, sein Weib und seine Kinder, die alle thütig sein müssen, sehen sich auf Gnade und Ungnade dem Belieben des Kaufherrn überliefert. „Der Weber," sagt Lange, „muß pünktlich seine Ware liefern, wenn er nicht sofortige Entlassung oder wenigstens Strafabzüge vom Lohn gewärtigen will, er . . . verdient größtenteils weniger als der Fabrikweber. Er ist bei schlechtem Geschäftsgänge viel eher der Gefahr der Arbeitslosigkeit ausgesetzt als jener ... Er ist meist ganz einflußlos bei der Festsetzung der Arbeitsbedingungen, muß vielmehr in gewöhnlichen Zeiten sehr zufrieden sein, wenn er überhaupt beschäftigt wird, fei es auch gegen noch so jämmerlichen Lohn." Was nützt es diesen Armen, daß sie sich „Meister" nennen, da ihr Los ein weit betrübenderes ist, als das der Fabrikproletarier, obwohl diese letzteren keineswegs günstig gestellt sind? Wer die Handweberei als Hauptberuf ausübt, muß täglich seine fünfzehn bis sechzehn Stunden schaffen. Am frühen Morgen bei Licht fängt man an, abends gegen 10 oder 11 Uhr wird aufgehört. Ist starke Nachfrage nach Geweben, so sitzen die erwachsenen Familienmitglieder bis tief in die Nacht abwechselnd am Stuhl und stellen in fünf bis sechs Tagen ein Stück von 33 bis 34 Meter her, wozu sonst sieben bis acht Arbeitstage erforderlich sind. Daß eine solche Arbeitszeit Geist und Körper ruinieren muß, liegt auf der Hand. Regelmäßige Ruhepausen giebt es gar nicht, kaum bleibt so viel Zeit, um rasch die karge Kost hinunter zu schlingen. Der Wochenlohn schwankt seit Jahrzehnten, obwohl die Preise für eine Reihe wichtiger Lebensbedürfnisse, die Steuersätze u. s. f. gestiegen sind, zwischen 5, 6, 7 bis 10 Mk., doch sind Betrüge von 3,50 bis 4,50 Mk. nichts Seltenes. Im Durchschnitt verdient eine Weberfamilie wöchentlich nicht mehr als 6 oder (UZ Mk.! In dem Weblohn steckt auch der Lohn für das Spulen der Schußgarne, das die Frau und die Kinder des Webers in der Regel besorgen. Muß er fremde Arbeitskräfte für das Spulen, das Scheren der Kettengarne, für das Schlichten (das Bestreichen der Kettenfäden mit Kleister) annehmen, so erhalten dieselben — es sind meist Kinder oder alte Leute — 1 bis 2 Mk. Wochenlohn. In solch einer Weberstube sitzen oft der Vater, die Mutter, die Kinder, die Großmutter an der Arbeit, unermüdlich die Hände regend, um das Leben klüglich zu fristen. Aus seiner Tasche hat der Weber für die Instandhaltung des Webstuhls mit Zubehör, für die Beleuchtung u. s. w. zu sorgen. Weit sind die Wege zum Verleger, und mit dem Liefern, dem Abholen der Garne wird manch kostbarer Arbeitstag versäumt.
Die Ernährung des Hauswebers besteht aus Kaffeesurrogaten (gebranntem Roggen, Cichorie re.), ans Kartoffeln und Brot aus ordinärstem Roggenmehl. Ein Brot von vier bis fünf Pfund muß für eine vierköpfige Familie zwei bis drei Tage reichen. Zum Frühstück giebt es eine Mehlsuppe aus