Heft 
(1889) 51
Seite
817
Einzelbild herunterladen

51.

Deutschland

Seite 817.

seit 1885 etwa konstatieren können, nicht durch eine Reihe an­derweitiger Thatsachen dargethan würde, so genügte schon der hervorgehobene Rückgang der Vermögensdelikte, um jeden un­befangenen Beobachter des Volkslebens davon zu überzeugen, daß die schweren Zeiten der die Grundlagen unseres National­wohlstandes antastenden wirtschaftlichen Krisis endgültig vor­über sind und die ärmeren Volksklassen sich die Mittel zur Lebenserhaltung wieder mit weniger Schwierigkeiten beschaffen können, als zu Ende des vorigen und zu Beginn dieses Jahr­zehnts. Wäre der Rückgang der Kriminalität lediglich der Be­wegung der Vermögensdelikte zuzuschreiben, so ließe derselbe keinen Schluß auf die sittliche Hebung der Massen zu; denn ein sittlicher Fortschritt kann bei einem Volke nicht angenommen werden, wenn die Verbrechen gegen die Sittlichkeit, gegen das Leben, wenn die Roheits- und Gewaltthätigkeitsdelikte sich nach wie vor auf gleicher Höhe halten. Die nähere Prüfung der Statistik für 1888 lehrt uns nun, daß auch bei denjenigen Verbrechen, welche für die Beurteilung der sittlichen Höhe eines Volkes vor allem in Betracht kommen, eine Verminderung vor­handen ist. Es haben sich gegenüber dem Stande des Jahres 1887 verringert die Verurteilungen wegen der schwersten Sitt­lichkeitsverbrechen, wegen einfacher und gefährlicher Körperver­letzung, wegen gewaltsamer Handlungen gegen Beamte, wegen Sachbeschädigung, Bedrohung und Beleidigung u. s. w. Die Verminderung ist keineswegs bei allen der genannten Ver- brechenskategorieen eine gleichmäßige, bei manchen ist sie nur sehr schwach und keineswegs mit jener auf eine Stufe zu stellen, welche bei den Vermögensverbrechen nachgewiesen wurde; aber es ist für die sozialethische Würdigung bemerkenswert genug, daß überhaupt eine Verminderung beobachtet werden kann; denn für die Sozialstatistik gilt ganz besonders der alte Satz der Scholastiker, daß die Zahlen nicht nur gezählt, sondern auch gewogen, d. h. gewürdigt werden müssen.

So erfreulich nun der Rückgang ist, der im Jahre 1888 auf der ganzen Linie der Kriminalität konstatiert wird, so muß man sich doch hüten, aus demselben allzuweitgehende Schlüsse in Ansehung der sittlichen Hebung des deutschen Volkes zu ziehen; die Ergebnisse eines Jahres geben dem Statistiker kein Recht, ihren Inhalt zu verallgemeinern, und für die wissenschaft­liche Ausbeute und Verwertung statistischer Thatsachen existiert kein größerer Feind als die Neigung, dieselben zu optimistischen Schlußfolgerungen zu benützen. Optimistische und pessimistische Betrachtungsweisen bilden ja überhaupt die beiden Klippen, welche die sozialethische Behandlung der (Statistik vermeiden muß, wenn anders sie ein zutreffendes, auch in keinem Punkte unrichtiges Bild von dem zu einer bestimmten Zeit vorhande­nen Zustande eines Volkes geben will, und wie viel durch die einseitige Verwertung statistischer, insbesondere kriminalstati­stischer Thatsachen, sei es in diesem oder jenem sinne, gesün­digt wurde, zeigt ein Blick in die Geschichte der Statistik. Je näher nun diese Gefahr liegt, um so mehr muß vor ihr ge­warnt werden. Wir können uns darum der Begeisterung, mit welcher in manchen Tagesblättern die Zahlen der Strasstatistik für das Jahr 1888 besprochen wurden, nicht anschließen, wir sind vielmehr der Ansicht, daß dieselben nur dazu berechtigen, von einem Anfang der Besserung zu sprechen, der, wenn die sozialen und ökonomischen Verhältnisse, von welchen ja der Stand und der Umfang der Kriminalität abhängig ist, keine Veränderung erfahren, zu einer nachhaltigen und dauernden Besserung wer­den kann, die einen wesentlichen Fortschritt des deutschen Volkes auf dem Wege sittlicher und kultureller Entwicklung bedeuten würde. Die Beobachtung der kommenden Jahre wird und muß zeigen, ob diese Wendung in der Bewegung der deutschen Kri­minalität eintritt oder ob die konstatierte Verminderung nur einen lediglich vorübergehenden Charakter hatte und dieserhalb auch vom sozialethischen Standpunkte aus als bedeutungslos er­achtet werden muß; die Wahrscheinlichkeit spricht nicht sowohl für die letztere als für die erstere Ansicht, und wir glauben die Hoffnung hegen zu dürfen, daß, wenn nicht wieder eine verwüstende Erwerbs- und Wirtschaftskrisis den deutschen Wohl­

stand heimsucht, die kommenden kriminalstatistischen Veröffent­lichungen mit noch besseren Ergebnissen schließen werden wie die Veröffentlichung der Zahlen des sozialen Defizits im Jahre 1888.

Wechselstrom »der Gleichstrom?

Die Kardinalfrage der Elektricitätswerke.

Bon

W. Werdrrow, Ingenieur. (Schluß.)

^Aie elektrischen Straßenbahnen, deren allgemeine An- Wendung die technische Welt nur noch als eine Frage der Zeit betrachtet, scheiden sich in zwei Systeme, deren Unter­schied lediglich in der Art und Weise besteht, wie dem zu bewegen­den Wagen die erforderliche Kraft, nämlich der elektrische Strom, zugeführt wird. Die zur Zeit am meisten gebräuchliche Art der Stromzuführung ist die mittels einer über den Schienen an Pfosten oder Säulen aufgehüngten Leitung, welche mit dem Elektricitätswerk in Verbindung steht und von hier aus mit Strom versorgt wird. Aus dieser Leitung entnimmt jeder einzelne Wagen die zu seiner Bewegung erforderliche elektrische Energie inittels eines mit dem Wagen durch ein Kupferseil leitend verbundenen, auf dem Draht schleifenden oder rollenden Kontaktes. Die Rückleitung findet auf dieselbe Weise durch eine zweite Leitung oder durch die Schiene statt. Diese An­ordnung der Stromzuführuug ist auch von der Allgemeinen Elektricitätsgesellschaft adoptiert worden, indem dieselbe das Ausführungsrecht für eines der besten Systeme, das der ame­rikanischen kLlsatrie Railrvav airck 51 o<or

erworben hat. Man scheint sich hier der Hoff­nung hinzugeben, über kurz oder lang den großen Berliner Straßenbahnbetrieb nach diesem System in einen elektrischen verwandeln zu dürfen, eine Hoffnung, die nach den durchaus guten Erfolgen, die viele derartige Bahnen in Amerika seit längerer Zeit, sowohl in finanzieller, als technischer Hinsicht, aufzuweisen haben, durchaus nicht unberechtigt ist. Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß immerhin noch manche Unzuträg­lichkeiten mit diesem System verbunden sind. In einer min­der verkehrsreichen Stadt, wo es nur wenige Straßenbahnlinien giebt, die womöglich in ihrer ganzen Länge voneinander ge­trennt sind, und wo der sonstige Straßenverkehr noch nicht allzustark ist, sind diese über den Geleisen hinlausenden Drähte Wohl angebracht; ob sie es aber in Berlin wären, wo das unendlich verwickelte Schienennetz mit seinen zahllosen Weichen, Kurven und Kreuzungen ein ebenso kompliziertes Netz von Luftleitungen erfordern würde, wo es überdies bedenklich er­scheint, den ohnehin schon aufs äußerste beanspruchten Raum, sei es nun aus dem Fahrdamm oder auf dem Bürgersteig, durch die erforderlichen Säulen noch mehr zu beengen, ist doch zweifel­haft. Wollte man auch das letztere Bedenken schwinden lassen, da schon der Gedanke aufgetaucht ist, die Stützen für die Lei­tung mit den Laternen zu vereinigen, so läßt sich doch das Gewirr von Leitungen, das an manchen Stellen, wo sich viele Strecken kreuzen oder verschlingen, entstehen würde, technisch wohl kaum mit der erforderlichen Sicherheit Herstellen. Die unterirdische Stromzuführung durch Rinnen zwischen oder neben den Schienen, welche auch hier und da in Gebrauch, bisher aber noch weniger als die Luftleitungen ausgebildet ist, kann für große Städte wegen der bei Schneefall oder argem Schmutzwetter unvermeidlichen Betriebsstörungen gar nicht empfohlen werden, auch würden sich hier bei der An­ordnung komplizierter Knotenpunkte dieselben Schwierigkeiten ergeben. In Städten mit sehr bedeutendem Verkehr scheint vielmehr das System des Betriebes durch Accumulatoren die richtige Lösung zu sein, obgleich über dasselbe bisher we­niger Erfahrungen vorliegen, als über das vorbesprochene.

-4