Heft 
(1990) 50
Seite
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Roland Berbig, Berlin

DerTunnel über der Spree"

Ein literarischer Verein in seinem Öffentlichkeitsverhalten 1

1. Einführende Bemerkung

Theodor Fontane hatte längst seine Mitgliedschaft niedergelegt, als er in seinen Erinnerungen ein Resümee des literarischen VereinsTunnel über der Spree" zog. (N)ur wenige Dichtervereinigungen wird es in Deutschland gegeben haben", heißt es nach Aufzählung der wichtigsten Mitglieder,die Besseres zu bieten in der Lage waren."" Das war wohl ernst gemeint, änderte aber kaum etwas an dem Bild, das vom Verein in die Literaturgeschichte einging. Abschätzigkeit dominiert. Der im Tunnel" vorherrschende Dilettantismus und die närrischen Gepflogenheiten, die den Umgang im Verein geregelt hatten, reichten, um es im wesentlichen bei Joachim Kruegers Urteil:Mittelmäßigkeit" 3 zu belassen.

Die Sozialforschung der letzten Jahrzehnte führte zu einer erheblichen Aufwertung der Rolle des Vereinswesens im 19. Jahrhundert. Es sei, so Thomas Nipperdey 1976, zu einer die sozialen Beziehungen der Menschen organisierenden und prägenden Macht" geworden' 1 . Das ganze bürgerliche Leben seimit einem Netz von Vereins­bildungen überzogen" 5 . Während sich bei der Erforschung politischer und wirtschaft­licher Vereine aufgrund einer günstigen Materiallage rasch Fortschritte erzielen ließen, entzog (und entzieht) sich das sozialkulturelle Vereinswesen mit seinem Heer an Gesangs-, Literatur- und Kunstvereinen einer bislang angemessenen Untersu­chung. 6 Für diesen Bereich zeichnet sich jedoch ein ähnlich hoher Stellenwert ab. Kröll, Bartjes und Wiengam verbinden in ihrer Studie die beobachteten Verände­rungen in den Sozialisierungsabläufen im 19. Jahrhundert mit derRevolutionierung gesellschaftlicher Lebensbereiche" und folgern (auch und besonders für die infor­mellen literarischen Gruppierungen):Die verschiedenen Vereinigungsgrundtypen erscheinen als .Antworten' auf neue Erfordernisse der Bewältigung von Problemen der gesellschaftlichen Reproduktion." 7

Reiht sich derTunnel über der Spree" in diese Typologie ein, möglicherweise mit einem eigenen unverwechselbaren Profil, oder ist er, wie viele behaupten, eine Er­scheinung an der Peripherie der Gesamtentwicklung?

Kaum ein Schriftsteller im 19. Jahrhundert, der nicht einem Verein (meist mehreren) angehörte, der sich nicht durch Gruppenbindung gefördert und angeregt wußte. Wie sich Tätigkeitsfeld und Berufsbild des Schriftstellers wandelten und entfalteten, so fächerten sich auch die Formen auf, in denen Vereine ins Leben traten (bzw. sich wieder auflösten oder bedeutungslos wurden). Die gegen denTunnel" in Anschlag gebrachten Einwände - dilettantisch, borniert, unpolitisch etc. - lassen sich beinahe gegen jeden vergleichbaren Verein formulieren: mit demselben Negativbefund. Um zu ergiebigen Befunden zu gelangen, muß der Verein alsOrgan der Persönlichkeits­bereicherung" 8 und als Ort interpersoneller Verhältnisse gesehen werden. Die Ten­denz zur selbstorganisierten Öffentlichkeit - als kollektive Privatheit und private Öffentlichkeit - berührt dann sowohl seine Rolle im sozialen Leben als auch die Entwicklungschance der jeweiligen Mitglieder. Gerade der Vorwurf fehlender Öffent­lichkeit hat zur eingeschränkten Wertschätzung desTunnel" ursächlich beigetragen.

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