Heft 
(1990) 50
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Angesichts der stiftsfähigen Weinflaschen hatte sich daher ein enthusiastischer Sonderbund aufgethan, welcher sich auch am 5ten Dezember wahrhaft und leibhaftig versammelt haben soll, jedoch ohne Haupt, Protokoll und eisernen Fonds, da die Bureaukratie des Vereins es mit dem legitimen Beschlüsse zu halten vorzog und auf der Bärenhaut blieb.

Auf diese Weise ist es gekommen, daß thatsächlich eine Sitzung mehr statt­gefunden hat, als amtlich registrirt ist. 11

Überhaupt scheint der Wein denTunnelianern" zu schaffen gemacht zu haben; je­denfalls nach Meinung des Protokollanten, des offenbar gestrengen Merckel <Im- mermann>: Auf derselben Sitzung vom 12. Dezember 1847 liest er seinen ,Span' Aus meinem Reisealbum" vor und erhält dafür die höchste Auszeichnung, dieEhre der Akklamation". Merckel hatte die Lesung bei Tafel begonnen, sieht sich dann aber gezwungen, abzubrechen mit dem Rufe:Wir sind jetzt zu lustig!"Gott Jokus tritt an die Stelle der Muse". Warum?Inzwischen potenzirte der Wein die Laune." 10 Mit gewohnter Heiterkeit beginnt man also das Jahr 1848. Liest man die Protokolle der ersten 14 Sitzungen dieses 21.Tunnel"-Jahrgangs, d. h. bis zum 5. März, und nimmt man sie als Zeitdokumente, dann muß man den Eindruck bekommen, daß das Jahr 1848 ein Jahr wie jedes andere ist. 11

Zwar kommt es am Freitag, dem 3. März, in den Rheinlanden zurKölner Petition"; 15 doch davon spürt man im Protokoll der 14.Tunnel "-Sitzung, die zwei Tage später stattfindet, nichts.

2. DerTunnel" zwischen März und Juni 1848

Das ändert sich erst mit der 15. Sitzung vom 12. März. Am Montag zuvor hatte Fried­rich Wilhelm IV. den Ausschuß des Vereinigten Landtags entlassen und gleichzeitig dasRecht des Landtags auf periodische Berufung" bewilligt. 11 Und nun, sieben Tage später, ist beimTunnel" zweierlei zu konstatieren: Zum einen ist das Protokoll des sonst so schreibfreudigen Merckel <Immermann> mit kaum mehr als einer Seite auffällig kurz. Zum andern bietet diese Sitzung insofern ein anderes Bild als sonst, als es zu Reprisen kommt: den 14 Anwesenden unter ihnen Fontane ^Lafontaines präsentiert Hermann Kette <Tiedge>sein schon zum Tillfeste vorgetragenes Gedicht"Themis" noch einmal. Es sei gewesengleichsam, wie ein einaktiges Stück vor einem großen Ballet, wie ein Gläschen Madeira vor dem Diner [. . .] oder ein Kanonenschlag vor dem Feuerwerk". Und worin besteht diesesFeuerwerk"?

Jetzt las Cook [Christian Friedrich Scherenberg] seine Waterlooschlacht zum zweitenmal, und zwar in Einem Zuge. Der Eindruck war der gewaltigste, den seit langer Zeit ein Gedicht überhaupt im Tunnel gemacht hat. Mehr zu sagen, wäre überflüssig und unmöglich.4 1

Angesichts der sich abzeichnenden Revolution hält es derTunnel" also mit dem Ritual: Er zelebriert so etwas wie einenaltpreussischen" 15 Gottesdienst, und dies mit Lesung eines Textes, dem man allen Trost zutraut; den Trost von 1815. Denn ScherenbergsWaterloo" ist das königstreue Paradestück desTunnels", das in die­sen Monaten noch vielfältig zum ideologischen Einsatz kommen wird.

Am Nachmittag, dem 13. März, nutzen Tausende von Berlinern das Frühlingswetter zu einem Bummel in den Tiergarten; auf dem Rückweg am Abend finden sie am Brandenburger Tor starke Militäreinheiten vor:

In der Stechbahn hieben die Kürassiere auf die Masse ein, die vorher völlig umringt und eingefangen war, hieben ein, ohne daß vorher irgend eine Auf­forderung zum Auseinandergehen erfolgt war. Frauen erhielten Säbelhiebe, Andere wurden von den Pferden zertreten, ein junger Mann erstochen. An an-

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