Nach seiner Meinung hätte der Untertitel »Zeit- und Sittenbild aus dem Winter 12 auf 13" die Beschaffenheit des Werkes besser ausgedrückt. 1
Die Motive, die einen Lyriker und Journalisten wie Fontane dazu bewogen, sich nunmehr in einer so anspruchsvollen prosaischen Gattung zu versuchen, sind letztendlich nicht geklärt. Unverkennbar spielten aber bei der Entstehung des Buches die Erinnerungen des märkischen Junkers Friedrich August Ludwig von der Marwitz, die 1852 in Buchform erschienen, eine große Rolle. Es wurden nicht nur etliche Episoden entlehnt, auch Marwitz selbst diente bekanntlich ursprünglich als Muster für die Hauptfigur in «Vor dem Sturm", den Herrn auf Hohen-Vietz, Bernd von Vitze- witz.
Den Marwitzschen Memoiren wurde großes Interesse entgegengebracht, nicht nur auf konservativer Seite. Aus ihnen schöpfte schon Willibald Alexis bei der Gestaltung des Titelhelden in „Isegrimm" (1854). Daß Friedrich von der Marwitz, ein erzkonservativer Gegner von Reformen im preußischen Staate, nicht das beste Muster für eine positive Romangestalt abgab, kann Fontane nicht allzu sehr angelastet werden: Bernd von Vitzewitz, wie wir ihn in der Endfassung des Romans vorfinden, hat mit seinem ursprünglichen Vorbilde nur noch wenige Gemeinsamkeiten.
Das Verfahren im „Roman aus dem Winter 1812 auf 13", gemäß dem Scottschen Prinzip mittels kleiner Lebenskreise die Geschichte en gros anschaulich zu machen, bürdet dem Verfasser allerdings eine beträchtliche Verpflichtung auf. Die literarischen Gestalten, die aus der Anonymität herausgehoben werden, genießen nunmehr das Privileg, stellvertretend für eine Gemeinschaft zu stehen. Zwangsläufig zieht dies eine Typisierung jener Gestalten nach sich. Ein ausgewogenes Fingerspitzengefühl ist für den Autor gerade da geboten, wo ein enger Personenkreis mit besonderer Prägnanz das Repräsentative verkörpern soll. Die Polen in »Vor dem Sturm" gehören ohne weiteres zu jener Kategorie.
Der alte Vitzewitz samt seinen beiden Kindern bildet einen der zwei „kleinen Lebenskreise", die die Handlung vorwärtstreiben. Das Haus Vitzewitz repräsentiert, kurz gesagt, im positiven Sinne das Preußentum. Die aus Polen expatriierte Familie von Ladalinski — Vater, Sohn und Tochter — bildet den zweiten, einen kompositio- nellen Ausgleich bietenden Lebenskreis im Roman.
Fraglich ist natürlich - um es gleich anfangs zu unterstreichen -, ob im Rahmen dieser Familienkonstellation das polnische Element dem preußischen das Gegengewicht halten kann. Auf das preußisch-patriotisch gesinnte Haus von Vitzewitz wird im Roman die Familie eines Polen bezogen, der sich von seinem Volk lossagt. Der Geheimrat Alexander von Ladalinski, einst durch eine unglückliche Ehe mit der Preußischen Comtesse Sidonie von Pudagla verbunden (wodurch er mit dem Hause von Vitzewitz verwandt ist), ehemaliger Kämpfer in der polnischen Insurrektion von 1794, tritt nach Polens Fall in den preußischen Ministerialdienst. Das bedeutet im Roman mehr als das in der Realität nicht ungewöhnliche Überwechseln von Adeligen in fremde Dienste. Denn er wechselt auch zur protestantischen Kirche über und wird schließlich »preußischer als die Preußen selbst". 2 Ladalinskis national entwurzelter Sohn Pertubal identifiziert sich in keiner Weise mit den Interessen seiner angestammten Heimat. Im Gegenteil — er findet auf den letzten Seiten des Buches, beim geglückten Versuch, den jungen Lewin von Vitzewitz aus der Gefangenschaft zu r etten, einen Heldentod durch französische Kugeln für .. . Preußens Sache.
Für den alten Ladalinski, dessen Abkehr von den patriotischen Freiheitsidealen auf der Hand liegt, und für seine Kinder lassen sich nicht dieselben Bewertungsmaßstäbe setzen. Das stellenweise vom Verfasser betonte Leiden Tubals und Kathinkas unter dem Mangel an nationalem Identitätsgefühl kann in psychologischer Sicht nur wenig
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