überzeugen. Als Kinder um das Jahr 1795 nach Preußen gebracht, hatten sie (mütterlicherseits selbst preußischer Herkunft) Zeit genug, sich hier als quasi Eingeborene heimisch zu fühlen. An ihrer Gesinnung aber liegt es, daß es zu einer von beiden Familien angestrebten Doppelheirat mit dem Hause Vitzewitz nicht kommt, was den Geheimrat Ladalinski in Preußen hätte festen Fuß fassen lassen. Kathinka folgt dem Rufe des in Berlin weilenden polnischen Grafen Bninski und flieht mit ihm nach Polen. Tubal erzeigt sich in seiner Beziehung zu Renate von Vitzewitz unstetig. Diese Unstetigkeit ist bei Fontane als ein an der Gesinnung haftendes Erbe aufgefaßt. Ebenso als angeerbt erscheint der vermeintlich polnische Nationalcharakter, der Fontane insbesondere an der Haltung der jüngeren Generation der polnischen Gestalten festmacht. Er haftet ihnen ungeachtet der veränderten äußeren Umstände an und ist als solcher der Hauptgrund, warum es im Buch zu einem polnischpreußischen Ausgleich nicht kommt. Das Treuemotiv, zu dessen Hauptträger die Figur des Bernd von Vitzewitz aufsteigt, verdeutlicht den Kontrast. An diesem Kriterium bewährt sich in mancherlei Hinsicht keine der polnischen Gestalten. Fontane liegt es natürlich fern, bei der Charakterschilderung 3 einseitig zu verfahren. Im ganzen hebt sich jedoch der preußische Nationalcharakter vom polnischen Hintergrund eindeutig positiv ab. Unbestreitbar bildet jener Hintergrund ein Mittel zum Zweck, preußische Tugenden vorzuführen.
Gegen die „polnischen Charaktere", wie sie bei Fontane gezeichnet sind, sträubt sich ein polnisches Identitätsgefühl, es leidet darunter ähnlich, wie es schon beim Erscheinen des Romans gelitten haben mag. Eine solche Auflehnung ist möglicherweise auch sonst nichts Ungewöhnliches bei einem Versuch, einen „Nationalcharakter" auf einige wenige Züge zu reduzieren. Was der Handlungskreis Ladalinski im übrigen realiter aufzuweisen hat, ist nur seine polnische Abstammung. Ist das nicht etwas zu wenig, um zum Hause Vitzewitz ein legitimes Gleichgewicht herzustellen?
Im Vergleich zur preußischen Geschichte, die in „Vor dem Sturm" leider allzu oft nur durchs Spektrum von militärischen Siegen und Niederlagen gesehen wird, kommt auch die Geschichte Polens entschieden zu kurz. Dies läßt einen kurzen Exkurs angebracht erscheinen.
Infolge angestrengter expansiver Bestrebungen Preußens erlebte das innerlich zerrüttete, von außen durch mächtige Nachbarn umgebene Land 1772 seine erste Teilung. Das Rückgrat von Polens Außenwirtschaft, der Weizenhandel entlang der Weichsel, wurde dadurch lahmgelegt. Im Mai 1791 wurde in Polen eine Verfassung durchgesetzt, die damals in Europa die fortschrittlichste war. Das Volk gedenkt bis heute der Männer, die diesen angestrengten Versuch unternahmen, Polen innerlich zu stabilisieren. Ihre Absicht wurde ein Jahr darauf durch eine russische Militärintervention zu Fall gebracht. Die Folge der in der nächsten Etappe durchgeführten zweiten Teilung Polens war der nationale Aufstand von 1794 unter Tadeusz Ko- sciuszko, der nach halbjährigem Ringen durch die vereinten Kräfte der Preußen und der Russen niedergeworfen wurde. Der polnische Staat wurde zerschlagen, die dritte Teilung war nurmehr eine Formalität.
Die Polen verbanden nun ihren Stern mit Napoleon. Das Lied der unter Dabrowski gebildeten polnischen Legionen in Italien wurde zur Nationalhymne. Preußens Niederlage bei Jena war die Losung, die Fremdherrschaft zu brechen und erneut einen eigenen Staat, das Herzogtum Warschau, zu bilden. Zum Rang von Symbolen erwuchsen die Gestalten des Obersten Kozietulski, der an der Sitze seiner Reiterei den Engpaß von Somosierra erstürmte, und des Generals Zajaczek, der bei der Deckung des blutigen Übergangs über die Beresina — beide Beine durch eine Kartätsche zerschmettert — sich von seinen Adjutanten zum Angriff tragen ließ. Mit
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